Original

14. Juni 1922

Man spricht von einem Zug nach Westen. Nicht erst seit des Christoph Columbus Zeiten, der seinen Kiel sich nach Westen beflügeln hieß. Von jeher, heißt es, haben menschliche Ansiedlungen den Drang gezeigt, sich in ihren vornehmsten Teilen nach Westen hin auszudehnen. Berlin West ist dafür klassisch.

Der Drang nach Westen hängt mit unserm Drang nach der Sonne zusammen. Als Erster morgens die Sonne begrüßen, hat seinen Reiz. Aber ihr sehnsüchtig und lichtdurstig folgen, bis sie untergeht, sie genießen, solange sie strahlt, und dann noch sich an der Apotheose ihres Niedergangs freuen und begeistern und daraus Hoffnung auf den nächsten Morgen trinken, das ist der Drang nach Westen.

Nicht, wer am ersten, nein, wer am längsten die Sonne liebt, hat des Tages Fülle genossen.

Der Drang nach Westen rührt sich seit einiger Zeit auch in Luxemburg.

Als unser Festungsgürtel gesprengt war, wirkte sich die frei gewordene Expansionskraft in der Richtung zum Bahnhof aus. Das war ein anderer Drang, der Zug ins Weite, das Sehnen in die Welt, in den Umtrieb des großen Lebens.

Erst ganz zuletzt begann der Westen seine geheimnisvolle Anziehungskraft auszuüben. Ein Unternehmer baute über der Merler Straße eine große weiße Doppelvilla, die weit ins Land leuchtete. Aus dem Feldweg, an dem sie lag, ist allmählich die Bel Air-Straße geworden. Und ganz zuletzt ist mit klugem Erfühlen der Zeitrichtung die Gesellschaft des Paro des Sports dem Drang nach Westen gefolgt und hat ihre großzügigen Anlagen mitten in das Zukunftsviertel von Luxemburg Westend gelegt.

Denn dies Terrain, die ganze Bel Air-Straße entlang, ist das idealste, das sich für eine Städteausdehnung denken läßt. Leicht nach Süden abfallend, sehnsüchtig dem Licht entgegen gebreitet, dehnt es sich unbegrenzt nach Sonnenuntergang fort. Nur ist es ein Skandal, daß der enge Zugang vom Äußern Ring her das ganze herrliche Gelände nach der Stadtseite gradezu abstranguliert.

Ich weiß nicht, wie Herr Stübben darüber denkt, aber eine der dringendsten Aufgaben der staatlichen und städtischen Bauverwaltung ist es, dies Gelände so zugänglich zu machen, daß sich die Baulust, die trotz der Unbill der Zeiten immer mehr anzuschwellen scheint, breit und ungehindert darüber ergießen kann.

Dann aber auch dafür zu sorgen, daß die befleckte Phantasie von allerhand Aucharchitekten das neue Viertel nicht mit aufdringlich grotesken Ausgeburten verschandeln darf.

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KatalognummerBW-AK-010-2175