Original

15. Juni 1922

Es geschieht zuweilen, daß mir ein Bekannter oder ein Unbekannter ein Bildchen schickt, das er aus irgend einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten hat und auf dem sich ein Kopf befindet, bei dem der Einsender eine Ähnlichkeit mit mir entdeckt haben will. Meist ist der Vergleich nicht schmeichelhaft, aber dafür kann der freundliche Einsender nichts.

Es ist etwas Eigentümliches um die Ähnlichkeit. Das könnte schon Herr de Lapalisse gesagt haben, meinen Sie. Aber denken Sie ein wenig darüber nach. Es gibt Leute, die auf Physiognomik keinen Wert legen. Sie sagen: Ein Mensch verrät seinen Charakter nicht durch sein Gesicht. Denn wenn ein Gesicht durch irgend ein Trauma verändert wird, bleibt der Charakter derselbe, aber das Gesicht bekommt einen andern Ausdruck.

Diese Skeptiker haben unrecht. Laßt die Seele eine genügend lange Zeit am Werk, so wird sie sich aus der Verschüttung herausarbeiten und den Ausdruck wieder nach ihrer Wesenheit zwingen.

Die wesentlichen Züge in einem Gesicht, diejenigen Besonderheiten, die die Ähnlichkeit bedingen, sind Imponderabilien, die auf den ersten Blick nicht immer erfaßbar sind. Ich habe Bildnisse gesehen, die von vorzüglichen Malern z. B. nach dem einen Bruder gemalt waren und nicht so sehr diesem, wie dem andern Bruder glichen. Dem Malerblick hatten eben diese Imponderabilien sich aufgedrängt, er hatte sie vielleicht übertrieben, während er auf Nebensächliches weniger Gewicht gelegt hatte, und so war es gekommen, daß aus übergroßer Familienähnlichkeit mit dem Bruder das Original hinter diesen zurücktrat.

Nun ist mir bei Feststellung von Ähnlichkeiten immer ein ganz Besonderes aufgefallen: daß nämlich je nach Charakter und Veranlagung der eine diese, der andere jene Ähnlichkeit herausfindet.

Es handelt sich nicht um ein gleiches Aussehen, bei dem Nase oder Schnurrbart den Ausschlag geben. Jeder kennt hier den Doppelgänger Clemenceaus oder Hindenburgs.

Ich meine vielmehr Ähnlichkeiten, die von innen heraus bestimmt werden, durch die seelische Durchleuchtung der Gesichtszüge. Und da setzt die Verschiedenheit der Vergleiche ein. Es ist, als wirkte eine Parallaxe, die durch die Verschiedenheit der Charaktere bei den Beobachtern bestimmt wird. Der eine steht die Welt polemisch und vergleicht bei zwei Gesichtern die aggressiv oder defensiv betonten Züge, der andere sieht alles friedlich und ihm fallen andere Merkmale zuerst auf. Der materiell Veranlagte wird an die Ähnlichkeit andere Maßstäbe anlegen, als der Poet, der Mann andere, als die Frau, der Simpel andere, als das Genie.

Und so hast Du, lieber Leser, ein originelles Mittel, den Charakter eines Menschen zu beurteilen. Jemand findet z. B., daß ein berühmter Mann ein Vogelgesicht hat, ein anderer sieht in dies selbe Gesicht etwas Heldenhaftes hinein. Ist der berühmte Mann wirklich ein großer Mann, so sagst Du Dir, daß seine Verkleinerer Neidböcke sind. Ist aber der berühmte Mann trotz seiner Berühmtheit ein Duodezmensch so findest Du, daß seine Bewunderer scherwenzeln, weil sie davon Vorteil erhoffen.

Im Kampf ums Dasein muß man jeden Vorteil ersehen, der Einblick in die Seele des Nächsten verschafft.

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KatalognummerBW-AK-010-2176