Original

20. Juni 1922

Als sich auf dem Bonneweger Kirchhof der Schwarm verlaufen hatte, ging ich hin, um das Denkmal für die Kriegs- und Fliegeropfer zu sehen und die Toten reden zu hören. Denn solange die Lebenden reden, schweigen die Toten.

Das neue Stück Gottesacker, das auf seine Aussaat wartet,lag öde und leer. Nur um das Denkmal herum standen ein paar Gruppen von Neugierigen. Eine Frau sagte: „Man wird nie erfahren, was es gekostet hat.“ - „Sie sagen 30 000 Franken,“ antwortete ihr Mann. - „Das wird man nie erfahren," wiederholte nachdenklich die Frau und maß das Denkmal mit mißtrauischen Blicken, wie den neuen Hut einer Bekannten.

Die Festtribüne war leer, wie eine ausgegessene Bonbondüte. Leere Festtribünen haben vorher etwas Feierliches, Imponierendes. Nachher sind sie wie leere Düten. Und auch das Rednerpult war wie eine leere Granatenhülfe. So überflüssig, unnütz und wichtigtuerisch.

Links stehen 13, rechts stehen 17 Namen von Toten auf dem polierten Granit des Denksteins.

Die links stehen sind von den Geschossen der Zentralmächte, die rechts stehen, von den Geschossen der Entente getötet. Neutraler kann man nicht sein. So geht es einem, wenn man zwischen Hammer und Amboß auf der Landkarte liegt.

Nun schlafen sie alle unter der Erde, auf der wir im Sommersonnenschein uns des Daseins freuen. Mir ist zumut, als müßte ich sie trösten, ihnen das Leben verleiden, ihnen einreden, daß es doch viel besser ist tot zu sein, als des Lebens Bürde weiterschleppen bis ins Greisenalter.

„Was hättet Ihr denn davon, wenn Euch in Frankreich die deutsche Kugel nicht getroffen hätte, wenn Ihr nachhaus gekommen wäret und Euch in den Alltag wieder hättet einschalten müssen? Heute seid Ihr Helden. Die Euch lieb hatten, weinen um Euch, Eure Namen stehen in Goldschrift auf einem Ehrenmal, hochgestellte Persönlichkeiten haben Reden auf Euch gehalten, Ihr lebt wie eine Art Laien heilige in der Erinnerung der Menschen fort. Wäret Ihr aber mit gesunden Gliedern heimgekommen, dann wäret Ihr heute ganz einfach der Pier und der Jäm@ und der Nick, Ihr würdet von Euern. Lieben geschimpft, wenn Ihr zu spät und mit einem Schwips nachhause kämet, Ihr bekämet vielleicht heute abend ein Wirtshausprotokoll und würdet von den Gerichten Eures Landes als Sauf- und Raufbolde verurteilt statt als Helden und als Vorbilder für die Nation gefeiert zu werden. Und Ihr erführet an Euch, was das Dichterwort heißt: Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Die Lebenden sind die Sachen, die Toten die Gedanken. Freut Euch Eures Todes.“

So und ähnlich redete ich den toten Legionären zu. Ein junger Mann ging vorüber und wiegte sich in den Hüften und ließ seine Hosen um lilaseidene Socken flattern, und ein junges Mädchen stand am Weg und sah ihm verstohlen nach. Und vom Heldendenkmal herüber hörte ich den Pier und den Jämp und den Nick, wie sie sagten: „Du hast gut reden, in der Sonne und im Raum war’s schöner, als in der Ewigkeit.“

Beim Nachhausegehen traf ich auf einen alten Herrn meiner Bekanntschaft. Er trägt seine fünfundachtzig - jawohl! - rüstig, wenn auch vorsichtig. Und bei der Knochenmühle sagte er: „Hier müssen wir uns dicht an der Mauer halten, sonst überfährt uns am Ende ein Automobil.“

Wenn dieser, für den junge Mädchen am Wegesrand längst keine Bedeutung mehr haben, so innig noch am Leben hängt, muß ich dem Pier und Jämp und Nick am Ende doch recht geben.

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    KatalognummerBW-AK-010-2180