Original

29. Juni 1922

„Haben denn Sie schon einmal“ - fragte sie mich - „haben denn Sie schon einmal einen vollkommen glücklichen Menschen gesehen?“

„Ich muß mich besinnen. Des Lebens ungemischte Freude ...... Doch, warten Sie einmal ...... einen vollkommen Glücklichen? Jawohl!“

„Sind Sie sicher?“

„Vollkommen sicher. Und nicht nur einen, es waren gleich drei beieinander.“

„Zwei hätte ich Ihnen eher geglaubt.“

„Zwei ganz Glückliche haben selten einen Zeugen ihres Glücks.“

„Also drei. Und wo war es?“

„Sie werden lachen: In Echternach, am alten Dingstuhl.“

„Warum soll man am Dingstuhl in Echternach nicht glücklich sein?“

„Es war ein blanker, heißer Werktagssonnennachmittag. Kein Mensch sonst auf dem ganzen Platz. Das Pflaster ließ sich die Sonne auf die Schuppenhaut scheinen, ein Hund lag mitten in der weißglühenden Fläche, alle viere von sich gestreckt. Es war so still, daß man über die halbe Stadt herüber die Sauer rauschen zu hören meinte. Die alten Häuserpatrizier standen um den Platz und schauten sich mit ihren ernsten Fassaden an, wie sie sich seit Jahrhunderten angeschaut hatten, die Zeit stand still.

Da kam vom Denzelt her der zitternde Klang einer Mandoline, skandiert durch Gitarrenakkorde, die in das Klimperklingling der Weise hineintönten wie dicke Tropfen von Uferbäumen in einen hüpfenden Bach. Der Madolinist lehnte an einem Pfeiler, der Gitarrist ihm gegenüber an einem andern, und ein Dritter stand mit verklärter Miene dabei und schlug den Takt. Es waren drei Wandervögel mit nackten Knieen, barhaupt, Rucksack, Kochgeschirr und Wolldecke feldmarschmäßig übergeschnallt.

Die zwei Musikanten legten ihre ganze Seele in ihr Spiel. Ihre Augen waren versonnen in den blauen Himmel gerichtet, in dem ein paar lichtsatte weiße Wolken schwammen und ihr Kamerad genoß es, sich im Takt ihrer Melodie zu wiegen und zu empfinden, als flösse ihm selbst die schüttere Musik im Rhythmus seines Armschwungs aus den Fingerspitzen.

Sehen Sie, Gnädigste, diese drei waren vollkommen glücklich, des bin ich vollkommen überzeugt.“

„Hm“ - (sagte sie da mit dem komischen Unwillen, der ihr so gut ansteht) - „ich kann mich doch aber nicht mit nackten Knieen in Echternach auf den Marktplatz stellen und Mandoline klimpern.“

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