Original

5. Juli 1922

Ein paar Nachklänge zum Turnfest gefällig?

Also zuerst die Mädchen. Alle Achtung vor allem, was sie geleistet, wie sie ausgesehen haben u. s. w. Aber sie können nicht gehen. Sie trippeln. Zum dreigestrichenen Dunnerknippchen, wenn man Beine hat, zumal solche Beine, soll man damit etwas anzufangen wissen! Und das Nächstliegende ist ja, nicht wahr, daß man damit ordentlich gehen lernt. Aber dies Gezäppel verhält sich zum Gehen, wie Nippen zum Trinken.

Die gottverfluchte Trippelei bei der heutigen Mitteleuropäerin kommt natürlich von den noch gottverfluchteren Stöckelschuhen, die bis in die Hüften hinauf ihre verkrüppelnde Wirkung fortsetzen. Es gab eine Zeit, wo die Frauen sich das freie, schöne Ausschreiten angewöhnt hatten. Es war damals, wo sie englisches Schuhwerk mit niedrigen Absätzen trugen. Am natürlichsten - also am schönsten - bewegen sich die Tennisspielerinnen, weil ihr Schuhwerk den Fuß nicht in eine Zwangslage versetzt, weil ihr Fuß seine Funktionen in natürlicher Stellung ausüben kann und demgemäß die Bewegungen des ganzen Körpers ungezwungen und natürlich sind.

Aber die Verschrobenheit der Mode machte bald genug Front gegen diese Art Frauenemanzipation, und um den weiblichen Schritt wieder in seine kleinsten Primfaktoren zu zerlegen, erfanden die Tyrannen der Frauenwelt, die Modenkönige, den Humpelrock, dessen Trägerin aussah, als wollte sie im Gehen die Pfastersteine an den Zehenspitzen abzählen. Und die logische Folge dieses Trippelschritts war der Stöckelschuh, der gottverfluchte. jawohl, Gnädigste! Und es wird nicht besser, bis ein immer stärkerer Prozentsatz von Modedamen an Hüftgelenkentzündung erkranken, von den Hühneraugen ganz zu schweigen. Und dann werden wir Turnerinnen sehen, die so zu gehen gelernt haben, daß das Gehen ein Genuß für sie und für die Zuschauer wird.

Für das unschöne Gehen entschädigten die prächtigen Freiübungen.

Worauf beruht eigentlich der Genuß, den diese Freiübungen dem Zuschauer gewähren? Er muß einen psychologischen Untergrund haben. Er ist anderer Art, als die Freude, die das Publikum über eine gelungene Einzelleistung empfindet. Ich glaube, daß der Anblick der Geschlossenheit, des Einklangs in der Bewegung dieser zahllosen Einzelkörper im Beschauer das angeborene Ordnungsgefühl in so hohem Maße befriedigt, daß sich die Genugtuung bis zur Lustempfindung steigert. Denn der Mensch ist nicht nur Gewohnheits-, er ist auch Ordnungstier. Darum freut sich tief in uns ein Wesensinstinkt über dies schöne Einordnen ins Ganze, über das freudige Zueinanderfügen einem gemeinsamen Zweck zulieb. Ja, dies große Schauspiel, an dem unter freiem Himmel, auf weitem Plan ein hundert- und tausendfaches Opfer eigenen Willens für einen gemeinsamen Zweck sichtbar wird, hat etwas Ergreifendes, wie jedes Massenopfer.

Aber wie reimt z. B. ein Individualist diese Freude an Gemeinsamkeit mit seinen Anschauungen? Sehr gut, da hier etwas wie ein Symbol des reinsten Individualismus in die Erscheinung tritt. Der Stärkere, Ueberlegene, der Führer gibt den Massen Rhythmus, Richtung und Tempo an. Der Beste herrscht kraft seiner Ueberlegenheit. Das Individuum steht vor und über der Masse, nicht die Masse über dem Individuum. Der Beste bleibt Führer nur solange er der Beste ist.

Wo es aber an Führertemperament gebricht, da geht die Ordnung in die Brüche, im Staat, in der Wirtschaft und in der Turnerei.

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