Original

7. Juli 1922

Eine Plauderei, die kürzlich hier über physiognomische Ähnlichkeiten erschien, hat einen Leser zu tiefgründigen Erörterungen über dasselbe Problem angeregt. Er geht davon aus, daß eine gegenseitige Abstimmung der Physiognomie-Phänomene zwischen zwei Individuen stattfindet. Dabei gelangt er zu Schlußfolgerungen, die auf ein ungeahnt weites Gebiet führen und die ich den Lesern dieses Blattes nicht vorenthalten möchte. Wenn sie vielleicht weiter greifen, als eine praktische Verwertung möglich scheinen mag, so sind sie doch auch als bloße Theorie interessant und anregend genug, um der Öffentlichkeit übergeben zu werden.

Mein Korrespondent schreibt:

„Es ist klar, 1° daß die Physiognomie-Phänomene den jeweiligen Empfindungen entsprechen, und 2° daß der Gesichtsausdruck unseres Gegenübers unsere Empfindungen ihrerseits influenziert.

Wenn wir diese Tatsachen, in wechselseitige Beziehungen bringen, so können wir folglich annehmen, daß eine Verstärkung durch Re- und Konsonanzen eintreten muß. Zum Beispiel: Wir begegnen einem Menschen, der gut gelaunt ist, sofort reagiert dementsprechend unser Empfinden und konsoniert. Durch Nesonanz kann alsdann eine Verstärkung unserer guten Laune sich weiter ausbilden und unser Vis-àvis des weiteren beeinflussen; es erfolgt also ein gegenseitiges Abstimmen.

Es ist leicht, vielseitige Anwendung dieser stimmungstheorie zu finden und wichtige Folgerungen daraus zu holen; bei ihrer Nachprüfung fand ich schönste Bestätigung.

Vergleiche, die ich z. B. in letzter Zeit bei Ehepaaren, besonders Neuvermählten, und bei Verlobten anstellte, bestärken mich in der Ansicht, daß Physiognomieähnlichkeiten, besonders mütterlicher seits, als Hauptanreger bei der Wahl wirksam gewesen sein dürften.

Das Problem unserer Zeit, der Produktivismus ist nicht zu lösen, indem wir die Starken unterstützen sondern die Schwachen leistungsfähiger gestalten.

Das große Heer der Nervösen kommt hier in erster Linie in Betracht, denn die einzige Behinderung ihrer Leistungsfähigkeit ist die Neurose. Wenn es gelänge, diese zu überwinden, würde die Leistunsfähigkeit der Allgemeinheit um ein Wesentliches gesteigert werden. Das Problem der Neurasthenie mithin eine Aufgabe von immens großer volkswirtschaftlicher Bedeutung.

Es erscheint mir als sehr wahrscheinlich, daß die Physiognomik in dieser Aufgabe eine bedeutende Rolle zu spielen geeignet ist:

1°durch Erkennen der Hemmungen,2°durch Influenzierung während der Arbeit,3°zur Aufstellung von Erziehungsprinzipien.“
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KatalognummerBW-AK-010-2194