Original

9. Juli 1922

Man spricht vom Reiz, der in den Gegensätzen liegt.

Einen dieser reizenden Gegensätze erlebten mehrere Ihrer Landsleute dieser Tage im Hafen von Antwerpen.

Einer Einladung des Hafen-Oberkommissars Herrn A. Cuvelier folgend, hatten sie im Propellerboot die riesigen Anlagen durchfahren und besichtigten u. a. die Funkstation eines großen Passagierdampfers.

Sie waren voll der Eindrücke, die der Anblick der Riesenschiffe vermittelt, wie sie Flanke an Flanke auf der Schelde und in den großen Bassins liegen, packende Sinnbilder des Weltverkehrs. Seeleute aus aller Herren Ländern wimmelten dazwischen herum, die Phantasie schuf dazu als Hintergründe die fernen Horizonte, von denen sie kamen, Indien, China, Japan, Afrika, Australien, alle Kolonien, deren Produkte die mächtigen Krane aus den Riesenbäuchen der Kauffarteischiffe in die Leichterboote saugten und hoben.

Und da weckte als Gegenstück und Gegensatz zu diesem Bild des Weltverkehrs eine reizende kleine Erzählung des liebenswürdigen Cicerone ein luxemburgisches Idyll: Ein freundliches luxemburger Dörschen irgendwo an einem grünen Hang, wo die Wiege des Erzählers gestanden hatte.

Eine Bekannte aus der Jugendzeit feierte zeit. Er fuhr damals als Kapitän auf einem großen Passagierdampfer, dem ersten, auf dem Versuche dem Marconi-Apparat angestellt wurden. Und ein erstes drahtloses Telegramm gingen seine Glückwünsche an das Hochzeitspaar durch den Raum, in die weite Wasserwüste an die Empfangsstation an Land und von da weiter nach dem Heimatdorf.

Der wackere Landbriefträger, der als letztes Glied in der Kette das Telegramm zu bestellen hatte, stand schon damals auf dem Standpunkt, auf dem heute die luxemburger Postverwaltung angelangt ist: Immer langsam voran!

Er hielt es demgemäß für einen vollständig überflüssigen Luxus, seine Spazierhölzer extra für die fremdartige Botschaft von irgend woher aus der Geographie in Bewegung zu setzen, und beschloß, daß morgen noch reichlich Zeit dazu wäre.

So nahm er denn das Radiotelegramm anderen Tags mit auf seinen gewöhnlichen Bestellgang, eingedenk der Wahrheit, daß Radiotelegramme, frisch zu bleiben, grade wie Seefische direkt und so schnell wie möglich befördert sein wollen.

Ob das Telegramm unter diesen Umständen jemals an die Adresse des inzwischen wahrscheinlich abgereisten Hochzeitspaares gelangte, ist mir nicht bekannt. Vielleicht erfahren die Adressaten das erst durch diese Zeilen.

Finden Sie nicht auch, daß diese zwei Pole einen reizenden Gegensatz bilden: Der Ozean, das Radiotelegramm, die weite Welt auf der einen - das idyllische Dörfchen, das Glück im Winkel, der luxemburger Post versinnbildende Landbriefträger mit seinem „Zeits genug!“ auf der andern Seite.

TAGS
  • Plauderei
KatalognummerBW-AK-010-2196