Original

16. Juli 1922

Die Zeit gilt uns als unüberwindbar. Wir haben trotz aller modernen Erfindungen auf sie keinen Einfluß. Den Raum haben wir besiegt, die Zeit ist unbesiegbar. Wir können sie nicht verlangsamen und nicht beschleunigen, und wir können sie besonders nicht zurückbeschwören, wenn sie vergangen ist.

Und doch!

Wir setzen in unserer Vorstellung die Zeit gleich mit ihrem Inhalt, mit Geschehnis, Bewegung. Und da haben wir sie an einem Zipfel gefaßt, an dem wir sie sozusagen einwecken können.

Das haben wir mit dem Kino, diesem Allerweltskerl, durchgesetzt. Gott weiß, was mit dieser viel- geschmähten Flimmerliste nicht noch alles erreicht werden kann. Man wußte ja auch lange nicht, welch ungeahnte Schätze die Chemie aus der Steinkohle herausholen könnte.

Also der David Kino hat den Goliath Zeit besiegt. Seien wir bescheiden. Er hat ihn nicht besiegt, aber sagen wir mal: Er hat ihm einen Fuß gestellt. Er fängt die Zeit, d. i. deren Inhalt, meterweise ein und hält ihn für ewige Zeiten fest. Die Bewegung ist nicht mehr flüchtig, für immer dahin, wenn sie einmal abgelaufen. Das Kino macht sie unsterblich. Es verhält sich zur gewöhnlichen Photographie, wie Leben zum Tod.

Sie brauchen nicht mehr zu sagen: Am Sonntag des großen Luxemburger Verbandsturnfestes war ich verreist, oder es war mir zu schlechtes Wetter, ich konnte nicht beiwohnen. Wenn Sie jetzt immer noch nicht die Turner bei der Arbeit gesehen haben, sind Sie ohne Entschuldigung. Denn was Tausende bei Gefahr ihrer Hüte und Toiletten draußen im Parc des Sports unter freiem Himmel gesehen haben, jeden Augenblick gewärtig, daß es ihnen auf die Köpfe regnen würde, das können Sie jetzt im Kino Niedingen jeden Abend von sicherem Sessel aus mit allem Komfort sich zu Gemüt führen. Das ganze fließende, quellende, wunderbar kanalisierte Leben jenes Festes zieht in bewegten Bildern wieder an Ihnen vorüber. Und wenn tausend Jahre hingehen, immer werden unsere Nachfahren, wenn sie nur wollen, zusehen können, wie am Sonntag, 2. Juli, die Turnerfahnen durch die Lüfte flatterten, wie Herr Alois Kayser die Verbandsfahne übergab, wie Herr Braun die großherzoglichen Herrschaften hereinführte und an ihre Plätze geleitete, wie Herr Marcel Cahen mit wehendem Gehrock daneben schritt, wie der wackere Turnonkel Bordang auf dem Dach der Tribünen zu den Freiübungen die Fahne schwenkte und wie ihm die Akustik den Spaß verdarb.

Denn das ist einer der kuriosesten Anblicke dieses interessanten Films.

Die ganze Arena hat sich mit Jungmannschaft gefüllt. Jeder hat seinen Platz eingenommen, die Reihen stehen gradeaus, rechts, links und querfeldein in musterhafter Ausrichtung. Nun kommt Leben hinein, tausend Arme heben, tausend Rümpfe neigen sich, tausend Beine fahren seitwärts hinaus, miteinander.

Miteinander? Nein. Und das ist das Komische, das die Akustik fertig gebracht hat. Die dem Orchester am nächsten standen, holten zuerst zu jeder Bewegung aus, auf den Takt der Musik. Die am weitesten standen, hörten den Ton um einen Bruchteil von Sekunde später, und dem paßten sich ihre Bewegungen an. Und so sieht man förmlich die Musik über das ganze Feld hinstreichen und Köpfe, Arme und Beine in dem Moment bewegen, wo sie ihn trifft. Es ist nicht der Wind, der über das Kornfeld streicht; es ist die Musik, die über dies menschliche Blumenbeet sichtbar hinfährt, von der nächsten Reihe bis zur entferntesten, mit der Geschwindigkeit des Schalles.

Das Seltsame des Anblicks frappiert noch viel

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KatalognummerBW-AK-010-2202