Original

18. Juli 1922

Ein Degenerierter, ein Visionär, sagen sie, hat wieder einmal den Revolver für seine Ideale reden lassen.

Bouvet, genannt Juvenis, der Jüngling, der nach der Revue von Longchamps auf den Polizeipräfekten geschossen hat und beinahe Herrn Millerand getroffen hätte, wird als typischer Vertreter jener Freiwünscher geschildert, denen die Welt sich in der Richtung ihrer Ideale nicht rasch genug entwickelt. Die Beglückung des eigenen Individuums und aller andern möchten sie in einem gigantischen Akt vollziehen, in dem der Wille zum Bessern in einem Weltspasmus sich auszucken könnte. Sie sind die Bestätigung einer oft ausgesprochenen Wahrheit, daß dieser Weltbeglückungstaumel bei der Jugend eine Pubertätserscheinung ist.

Es ist schlimm genug, wenn von Zeit zu Zeit einer dieser Traumtatmenschen eine für die bestehende Ordnung repräsentative Persönlichkeit vor seinen Richterstuhl fordert, ihr den Prozeß macht, das Urteil spricht und die Strafe vollstreckt.

Schlimmer aber ist es, wenn es einem solchen Visionär und seinen Anhängern gelingt, eine Gemeinde zu bilden, eine solche Macht zu erlangen, daß sie mit ganzen Volkskörpern soziologische Experimente anstellen können.

Ein Rathenau ist schließlich zu ersetzen, der Tod Millerands wäre, wenn ihn die Kugel des verbohrten Attentäters getroffen hätte, für Frankreich ein Unglück, aber keine Katastrophe gewesen. Eine geschichtliche Katastrophe aber wäre es z. B. für Frankreich, wenn unverantwortliche Sozialtheoretiker es in abenteuerliche Entwicklungen hineinzögen, die dem Bilde entsprächen, wie es sich ein Juvenis von der Welt macht und die mit der Zertrümmerung materieller, ethischer, intellektueller, künstlerischer Werte endigen müßten, für die das Pharisäergefasel der Weltverbesserer keinen Ersatz zu schaffen imstand ist.

Die Zeit der Visionäre ist vorüber. Niemand braucht heute mehr für die Verwirklichung einer Idee oder die Vertretung einer Wahrheit zu sterben, wenn es ihm um beide aufrichtig zu tun ist. Die Emanzipation von heute heißt Arbeit. Und das Ideal, das sich die Menge immer noch von dem Helden und Heiland macht, ist ein egoistisches Ideal. Der Mann soll für seine Sache stehen und sterben, sagen sie. Und denken dabei: Er wird für die Allgemeinheit stehen und sterben, also auch für mich. Er ist ein Held. Sorgt er für sich und sein Leben und sein Wohlergehen, so ist er ein Egoist!

Man sieht, die Masse erwartet vom Einzelnen immer Opfer in ihrem Interesse, sie erwartet von ihm Licht auf ihren Weg, Führung, Inspiration.

So sollte sie sich immer mehr mit dem Bewußtsein durchdringen, wie wichtig es ist, daß Einzelne groß und mächtig und klug über sie hinauswachsen, damit sie ihre Erlöser, ihre Führer, ihre Erleuchter, ihre Exponenten sein können.

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