Original

23. Juli 1922

Erstes Bild; Irgendwo an der Prinzheinrichbahn, wo auch die Wilhelm-Luxemburgstrecke in der Nähe ist. Der Prinz hält klar zur Abfahrt, der Zugführer setzt schon die Trillerpfeife an die Lippen ..... Auf einmal sehen die Fahrgäste den Bahnhofvorsteher in aufgeregtem Gespräch mit einem Fremden. Der Vorsteher scheint sehr entrüstet, der Fremde hat ein amaranthfarbenes Bändchen im Knopfloch. Außerdem ist auch er entrüstet. Er hat eine ausländische Fahrkarte über die Wilhelm-Luxemburg-Bahn nach x. Er will aber nicht über die Wilhelm-Luxemburg-, sondern über die Prinzheinrichbahn nach x fahren. Der Vorsieher erklärt ihm, das gehe nicht, da müsse er erst eine Fahrkarte für die Prinzheinrichbahn lösen. Die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen weiland König Wilhelm und dem Prinzen Heinrich seien nicht derart, daß die nach ihnen getauften Bahnstrecken gemeinsame Kasse machten.

Der Inhaber des amaranthfarbenen Knopflochbändchens spielte darauf seinen höchsten Trumpf aus: Er sei Belgier und der Freund des Herrn Direktors.

Das bewog den Vorsteher, ihm nicht so grob zu kommen, wie er ihm sonst vielleicht mit Recht gekommen wäre, aber er bestand darauf, daß der Fremde, trotzdem er Belgier und ein Freund des Herrn Direktors war, eine Fahrkarte für die Bahnstrecke löste, die er befahren wollte.

Die Neisenden aber ärgerten sich, denn über dem Parlamentieren mit dem Fremden war nahezu eine halbe Stunde vergangen. Und jemand glossierte den Vorfall mit der Bemerkung: Wenn unsereiner in Belgien den Anspruch erhöbe, einen Zug warten zu lassen, weil er kein Billet lösen wollte, so würde man ihn auslachen.

Zweites Bild: Ein junger Mann aus Clerf tritt mich auf der Straße an u. fragt, ob nichts dagegen zu machen sei, daß die Belgier ihre Briefe und Karten nach Luxemburg durchweg ungenügend frankieren. Statt mit 6, bekleben sie z. B. ihre Briefe nur mit 5 Sous, was zur Folge hat, daß wir jeden Tag ein paar Francs Strafporto zu zahlen haben, und zwar 6 Sous pro Brief, auf dem ein Sous fehlt.

Ich argwohnte erst, das sei wieder eine Erfindung des Herrn Neyens, zum Zweck, der Post auf diesem Wege die Gelder zuzuführen, die sie wegen unzeitgemäßen Gebarens auf normalem Wege nicht mehr verdient. Wenn schon eine Firma in Clerf täglich ein paar Franken Strafporto bezahlt, wieviel macht das auf sämtliche Firmen des Landes und auf 300 Tage im Jahr? Aber es kamen mir Zweifel an dieser Auffassung. Träfe sie zu, so würde Herr Neyens totsicher die Sonntagsruhe wieder abschaffen, weil ihm durch sie der Strafportoverdienst von 52 Tagen entgeht.

So mußte ich schließlich annehmen, daß die Belgier ihre Briefsachen nach Luxemburg mit ihrem Inlandporto frankieren, weil sie annehmen, durch das Fallen der Zollgrenze sei jegliche Grenze abgeschafft.

Ich benütze diese Gelegenheit, die Stellen, die es betrifft, um baldige Aufklärung der öffentlichen Meinung in Belgien zu bitten, und zwar erstens darüber, daß auch die Freunde der Eisenbahndirektoren hierzuland ihre Fahrkarten lösen müssen, zweitens darüber, daß die Belgier mit der Kleinigkeit von einem Sous ihren hiesigen Korrespondenten das Sechsfache an Strafporto ersparen können.

Das ganze Unglück in der Welt kommt aus Mißverständnissen. Und da wir mit den Belgiern gut Freund sein wollen, so wollen wir, nicht wahr, die Mißverständnisse ausrotten, wo wir ihnen begegnen.

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