Original

25. Juli 1922

Während ich vor dem Gewitter in der BahnUnterführung Unterschlupf suchte, gesellten sich eine Bäuerin und ein Kind zu mir. Die Kleine hatte das Gesichtsoval und die unbestimmte Augen- und Haarfarbe der Hunsrückerinnen, die Frau war ein Produkt von Sorge, Trotz und gebückter Arbeit. Sie hatte ein Gesicht, von dem man sich nicht denken konnte, daß es je einmal lachen würde. Sie sprach jedes Wort wie in tiefem Grübeln nach der Lösung einer Lebensfrage. Ihre Augen hafteten an nichts Nahem, sie war mit ihren Blicken weit draußen, auf dem Fluß, der mit aufspringenden Tropfen im Platzregen zitterte, auf den gelben Kornfeldern, über die der Sturm kämmte, auf den dampfenden Wäldern, in die der Horizont nah und grau herunterhing, in dem eintönigen Regenhimmel, von dem sich hie und da ein Wolkenfetzen lostrennte und vor dem Wind segelte.

Und dann kam wohl das Ende einer Gedankenreihe über ihre dünnen Lippen: Wenn es so weiter regnet, faulen alle Kartoffeln auf dem Bann! - Sie sagte „auf dem Bann“. denn daß auch draußen noch Kartoffeln wuchsen, die faulen konnten, das lag jenseits ihres Interessenkreises.

Ein andermal: „Dort das Korn steht schön. Bei uns gibt es kein Brotkorn. (Sie sagte „Pruttkoar“.) Wenn doch nur die Kartoffeln geraten, daß man sich helfen kann!“

Und die Sorge fuhr ihr durch alle Glieder, der Instinkt des Helfen- und Richtenmüssens. Ihre arbeitverkrümmten Finger fuhren ohne Veranlassung nach dem kleinen Mädchen, das neben ihr stand, und schubsten es zurecht, aber ihre Gedanken waren draußen, im Regen. Sie hatten noch eine Stunde weit zu gehen, nicht zu ihrem Vergnügen, Gott bewahre, sonst wären sie zuhaus geblieben. Und ich sehe sie schon am Ziel ihrer Wanderung in dumpfem Stübchen, in dessen einzigem Fenster Fuchsten in gelb und braun lasierten Scherben stehen, wie sie mit andern Frauen ihre Sorgen zusammenlegt und wie sie dicht am Boden mit gebückten Leibern und erdgebundenem Sinnen ihre Stunden, Tage, Wochen und Jahre hinspinnen.

Ihr in den Städten wißt zu wenig von diesen Primitiven, die noch so dicht am Ursprünglichen, an den Wurzeln alles materiellen Seins hinleben, so dicht am Brot und an den Kartoffeln! Uns sind Kartoffeln und Brot nicht mehr eine Angelegenheit, die mit Himmel und Erde zusammenhängt, sondern ein Erzeugnis des Markts - grade, als ob sie aus dem Pflaster des Wilhelmplatzes alle Mittwoche und Samstage je nach Bedarf herauswüchsen. Für jene aber sind sie der Damm, der sie vorm Verhungern schützt. Ist der Damm nicht mehr da - darüber hinaus liegt für sie nichts mehr, als Graus und Elend. Aber sie leben, sie hängen am Dasein, an dem Dasein, das sie führen - weil die Erde unter ihnen ihre Erde und weil der freie Himmel immer über ihnen ist, wenn sie am ärgsten schuften müssen.

Und so war es keine verlorene Stunde, die ich im Gewitter unter dem Bahndamm zubringen mußte.

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KatalognummerBW-AK-010-2209