Original

4. August 1922

Fast ebenso große Aufregung, wie seinerzeit der Tod des jungen Duhr durch die Kugel des Küfers Bellion in Dreiborn peitscht jetzt das Urteil gegen Bellion in der Heimat des Opfers und des Schuldigen auf.

Bellion wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Unter Annahme mildernder Umstände. Er hatte mit seinem Opfer einen Wortwechsel, rief ihm zu: Im Namen des Gesetzes, bleib stehen! und schoß ihn nieder. Die mildernden Umstände bestanden anscheinend darin, daß Bellion sagte, er habe nicht gewußt, daß die Waffe geladen war.

Es waren über den Fall allerhand Versionen im Umlauf. Nach einer davon sollte Bellion beim Wildern den jungen Duhr für ein Reh gehalten und so aus Versehen totgeschossen haben.

Man fragt sich, ob es ihn nicht erheblich teurer gekostet hätte, wenn er wirklich ein Reh gewildert hätte und dabei ertappt worden wäre.

Wie immer der Fall liegt, der Niederschlag im Volksbewußtsein bleibt der: Ein Mann schießt einen andern tot und kommt mit drei Monaten Gefängnis davon, weil er sagt, er habe nicht gewußt, daß die Waffe geladen war.

Das Rechtsbewußtsein des Volks sieht die Dinge schematisch, nüancenlos. Es hat die beredte Verteidigung nicht gehört, deren eindringliche Art die Richter von der relativen Entschuldbarkeit des Totschlags zu überzeugen wußte, es sieht den Fall nur in dem brutalen Umriß des Endergebnisses, das Volk sagt sich nur: „Also wenn einer den andern totschießt, braucht er nur zu sagen, er habe geglaubt, die Waffe sei nicht geladen, so kommt er mit einem Pappenstiel davon. Läßt er aber den Mann leben und stiehlt ihm nur das Portemonnaie aus der Tasche - was dem Opfer wahrscheinlich viel lieber wäre - so ist für ihn kein Kerker tief und kein Galgen hoch genug.“ Es fehlte nicht viel, so empfände das Volk bei diesem Vergleich den Straßenräuber als Märtyrer.

Was soll diesem Zwiespalt gegenüber die Justiz tun? Sich in den heitern Höhen des reinen, absoluten Rechts ansiedeln, wo der Dunst des Volksempfindens, der Massenpsychose, der blinden Leidenschaften nicht hindringt - oder sich in die Niederungen begeben, in denen die Volksseele kocht, und den Mantel nach dem Rechtsempfinden der Masse hängen, wie es die Politik zu tun gezwungen ist?

Wo ist Wahrheit?

Sehen Sie, mein lieber Herr Landpfleger Pilatus, die Welt ist seit Ihrer Frage von damals älter, aber nicht klüger geworden.

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