Original

5. August 1922

Haben Sie das gelesen, Herr Redakteur! Unser Herr Ahnen, unser Direktor, der Leiter unseres Mädchenlyzeums, will an der Anstalt nur weibliches Personal haben! So steht es in den Berichten über die Kongreßsitzung von Mittwoch.

Hat unser guter Hary bedacht, daß er damit den Ast absägt, auf dem er sitzt, daß er zu allererst fliegen und einer Direktorin Platz machen müßte? Oder aber hält er sich für unseres Geschlechts, oder will er das weibliche Ganze mit einer männlichen Spitze gekrönt wissen, sodaß er als einziger Mann in dem pompösen Neubau, zu dem eben die Fundamente ausgegraben werden, Hahn im Korb spielen könnte?

Ich halte darauf, Ihnen zu sagen, Herr Redakteur, ich ausgehende Tertianerin und angehende Sekundanerin am Lyzeum zu Luxemburg, daß uns Mädchen ein Professor am kleinen Finger lieber ist, als eine Professorin an der ganzen Hand. Nicht aus dummem Hang zum Techtelmöchteln, wie Sie ebenfalls glauben könnten - schämen Sie sich! - sondern weil wir bei den Männern die Festigkeit und Überlegenheit spüren und ihr Wort hinnehmen und von ihnen willig lernen, während gegen jeden Satz einer Geschlechts- genossin gleich die Lust zur Widerrede sich regt, geboren aus dem Bewußtsein, daß sie schließlich nicht mehr ist, als wir selbst.

Was soll übrigens diese ganze altjungferliche Schen vor der Koedukation und der Koïnstruktion? Warum sollen auf einmal die Geschlechter konsequent auseinander gehalten werden? Wo doch die einzige Möglichkeit, der einzige normale Weg zur Frauenemanzipation zur Niederlegung jeder Schranke führen sollte! Man soll den Wert und die Verwertung von Mann und Frau nicht darnach bestimmen, ob eines Rock oder Hose trägt, sondern darnach, was es individuell wert ist.

Überall - blicken Sie einmal um sich - überall, wo es angebracht wäre, daß die beiden Geschlechter öffentlich zum Wohl des Ganzen Hand in Hand und zusammen arbeiten, da reißt man sie auseinander. Es ist tatsächlich. als ob Mann und Frau nur in Heimlichkeit zueinander kommen dürften! Glauben Sie denn nicht, daß wir Mädchen uns darüber Gedanken machen! Wir wollen Freiluft, in der wir uns frei bewegen und atmen und unsere Kräfte regen können, wir wollen nicht überall auf verschleierte Blicke und Worte stoßen, die geheimnisvolle Schranken um uns aufrichten, für uns ist die Zeit des Muckertums vorbei, das werde ich unserm Hary nächstens einmal selber sagen.

Und ich werde ihn fragen, warum denn da, wo das Höchste, Glaube und Religion auf dem Spiele stehen - warum da das Prinzip von der Trennung der Geschlechter noch nicht durchgeführt wurde. Warum gibt es für die Frauenseite keinen weiblichen Pfarrer? Warum stehen nicht in jedem Dorf zwei Kirchen, eine für Männer und eine für Frauen, wo in der einen für Männer und in der andern für Frauen gepredigt, getauft, gelehrt, Beicht gehört wird usw.?

Nichts für ungut.

Juliette Zungenschlag (s. oben).

P.S. - Sagen Sie dem Herrn Direktor nichts von meinem Brief, er würde bös.

P.S. - Sie können es doch sagen, ich habe die Sache wieder in der Zeitung gelesen, es ist zu dumm! Übrigens weiß ich nicht, ob ich wieder ins Lyzeum gehe, ich glaube, ich werde mich verloben. Er ist zu süß! D. O.

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