Original

6. August 1922

Professor Mathias Esch hat am 2@. Juli 1921, am dreihundertsten Jahrestag der Geburt des Fabulisten La Fontaine, vor den Schülerinnen des Mädchenlyzeums einen Vortrag gehalten, der jetzt im Druck erscheint: «En relisant La Fontaine.»

Höhere Töchter sind ein gefährliches Auditorium. Von ihnen gilt in viel höherem Maße, als von andern Menschenkindern, das Wort: «Cet âge est sans pitié!» Spott und Hohn sitzen ihnen so locker, wie der Biene der Stachel. Und vielleicht sind ihnen Spott und Hohn grade, wie der Biene der Stachel, nur Abwehrwaffen, wenn sie instinktiv sich davor ängstigen, unter den Einfluß eines Stärkeren zu geraten.

Wenn also einer vor dieser Zuhörerschaft mit Ehren bestehen will, muß er in der Seele des werdenden Weibes Bescheid wissen.

Mathias Esch ist mit pädagogischem Scharfsinn erblich belastet. Seine Broschüre zu lesen ist ein Leckerbissen. Haben Sie nie bemerkt, daß Sie lieber und interessierter zuhören, wenn eine Geschichte einem Dritten, als wenn sie Ihnen selber erzählt wird? Wendet sich der Erzähler an Sie selber, so merken Sie die Absicht und werden verstimmt. Stehen Sie aber als indirekter Zuhörer abseits, so erhöht sich der Reiz dadurch, daß Sie den Erzähler in seiner Kunst unparteiisch beurteilen, die Wechselwirkung zwischen ihm und seinen Zuhörern wie ein psychologisches Phänomen von eigenartigem Interesse beobachten.

So ergeht es Ihnen beim Lesen dieses Vortrags. Mathias Esch wollte nicht einfach eine Summe von Wissen und Nachdenken über einen Schriftsteller aus sich herauslaufen lassen, er suchte, von sich aus seine Aussagen über La Fontaine zu einem Kunstwerk in seiner Art zu gestalten, ihnen das zu verleihen, was ein Werk haben muß, von dem man sagt: Es durfte nur so und nicht anders sein.

Der Herr Professor bringt seinen Schülerinnen die Persönlichkeit und das Werk des Fabeldichters so nahe, daß alles Buchempfinden versinkt und der lebendige Mensch mit allen Schönheitsfehlern, allem Tadelns- und Liebenswerten, was ihn auszeichnete, sein Dasein abwickelt, von Château-Thierry bis Paris. Esch macht sich dafür einen eigenen Ton zurecht, der zwischen Schule und Salon klingt, der dem Kindlichen im Wesen der Schülerinnen ebenso geschickt und liebenswürdig gerecht wird, wie dem reifen Menschtum, das mit seinen Pflichten, Forderungen, Geheimnissen und Erfüllungen ihrer wartet. Er unterläßt es nicht, die Faulheit des jungen La Fontaine, seine Sorglosigkeit, seine bedauerliche Führung als Ehemann usw. ins Licht zu stellen, aber er bringt es nicht über sich, das Bild durch diese Züge zu verunzieren. Er hilft sich schließlich damit, daß er seinen Zuhörerinnen sagt: Wenn Ihr so schöne Verse schreibt, wie er, so wird Euch vieles verziehen. Er redet aber nicht nur zu einer Versammlung von Backfischen, er sieht in dem Menschengut vor sich die künftigen Hüterinnen der Herdflamme, an der sich die kommenden Generationen erleuchten und erwärmen werden und er schließt mit der Aufforderung:

«Mesdemoiselles, quand vous serez de grandes jolies fiancées, souvenez-vous qu’à vous aussi il appartiendra, en fondant votre foyer, d’y entretenir comme un feu sacré le oulte des nobles lettres françaises.»

Mathias Esch konnte keine überzeugendere Kampfschrift gegen die Beseitigung männlicher Lehrkräfte am Mädchenlyzeum schreiben, als diesen Vortrag.

Ich gehe von hier sporenstreichs zum Buchhändler und kaufe mir einen neuen La Fontaine, den will ich mit in die Ferien nehmen und in Wald und Feld und auf dem Wasser lesen. Jeder, der die Broschüre von Mathias Esch liest, wird ein Gleiches tun.

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KatalognummerBW-AK-010-2218