Original

20. September 1922

Jedes Kind macht sich, mehr als es die Eltern ahnen. Kopfzerbrechen über die Wahl seines Berufs.

Als kleiner Junge war ich lange unentschieden. Ich schwankte zwischen Rollefax und „Riffer“.

Den Rollefax kennen Sie. Er saß auf seinem Bock wie auf einem Thron, hatte das schönste Paar Pferde, das man auf dem Dorf je zu sehen bekam, die schönsten Mädchen buhlten um die Gunst, von ihm unterwegs mitgenommen zu werden, und er hatte überhaupt ein Leben, wie Gott in Frankreich.

Den „Riffer“ kennen Sie auch. Es ist der Ausrufer des Notars. Beim Notar Jesus ist er der Johannes der Täufer, der vor jenem einhergeht, wie das Licht vor der Sonne, das Brüllen vor dem Löwen.

Der Notar ist den Massen ein wesenloser, unpersönlicher Begriff, der irgendwo über allem schwebt, an den man unmittelbar nur dann herankommt, wenn das Geld, positiv oder negativ, die direkte Verbindung herstellt. Aber der „Riffer“ ist der Schatten, den der Notar auf die Öffentlichkeit wirft. Im „Riffer“ tritt sein Wesen in die Erscheinung. Der Notar wird nach dem „Riffer“ gewertet, wie der Fuhrmann nach der Peitsche. Denn der „Riffer“ ist auch die Peitsche des Notars, er ist seine Zunge, er ist sein Schäferhund, sein Lasso, seine Gärhefe und noch allerhand.

Der „Riffer“, der uns damals imponierte, war der „Bo’uschli“. Er stand auf der Kreuzgasse, schwang seine große Schelle im Dreitakt und legte los mit seiner schmetternden Trompetenstimme. „E Sonndeg de Metteg em drei Auer ......“ Und der Schluß lautete unweigerlich: „We Libhaber aß, kann sech an der Wiertschaaft bei der Wittsra Lo’uth afanne loßen.“

Der „Bo’uschli“ hatte den schönsten Kaiser Maximilian-Bart, er stand mit aufgerecktem Kopf, blitzenden Augen, in herausfordernder Stellung, während er seine Verkündigung in kurzen Sätzen herausstieß, jeder wie ein Kommando: Feuer! Und da soll ein Bubenherz nicht höher schlagen!

Den letzten „Riffer“ sah ich kürzlich auf der Clasenschen Weinversteigerung in Grevenmacher. Dieser hatte ein Cecil Rhodes Profil und eine so wunderbare Stimme, daß er in jedem Kulturland längst von einem Operndirektor entdeckt wäre. Mit geweitetem Brustkasten, Kopf hoch, Augen links und rechts und überall, schritt er mit geschwungenem Stock durch die Reihen der Liebhaber und Zuhörer, bereit, ihnen die Angebote aus dem Hals zu reißen. Und das drei Stunden lang ohne Pause, immer unter Hochdruck, immer frisch wie beim ersten Fuder. Es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, mit Kehle, Herz, Lungen und Musteln drei Stunden lang so hoch auf dem Maximum der Kraftanstrengung zu balancieren, die Leute am Portemonnaie zu kitzeln, die Stimmung umzurühren, daß sie nicht einschläft. Das verlangt einen ganzen Mann.

Dafür ist er aber auch eine Kantonalberühmtheit.

Aber ich glaube, ich würde mich heute doch lieber für den Rollefax entscheiden.

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KatalognummerBW-AK-010-2220