Das meistgelesene französische Buch ist zurzeit wahrscheinlich der Roman «La garçonne» von Victor Margueritte.
Er ist bis heute in weit über 100 000 Exemplaren verkauft.
Der Zweck dieser Zeilen ist denn auch keineswegs, für das neueste Werk des erfolgreichen Autors Reklame zu machen.
Victor Margueritte nennt das Buch einen Sittenroman. Er hat mit andern Sittenromanen das gemein, daß er nur die Unfitten bezw. die Unsittlichkeit der Kreise schildert, in denen er spielt, hier also derjenigen, die für gewöhnlich in dem Ausdruck «Tout-Parts» zusammengesaßt werden: Finanz, Politik, Großindustrie, Künstlerschaft, Halbwelt.
Den meisten modernen Romanen ist anzumerken, daß sie auf die Verfilmung hin geschrieben sind. Von «La garçonne» kann dasselbe schwerlich behauptet werden. Eine Verfilmung dieser Handlung wäre höchstens als Sonntagsnachmittagsunterhaltung für das Personal eines Hauses Tellier zu denken. Und auch da würden sich die Zuschauerinnen wahrscheinlich nur über die Konkurrenz der Weltdamen ärgern und über deren Dilettantismus die Näschen rümpfen.
Ich hätte über das Buch ganz gewiß hier kein Wort verloren, wäre ich darin nicht auf einen Passus gestoßen, über den ich mich ehrlich geärgert habe.
In der Entwicklungsgeschichte der Heldin, die sich zur garçonne auswächst, kommen folgende Sätze vor:
Monique a huit ans. Elle a poussé en longueur. Elle tousse souvent. Aussi, quand elle va se promener au bord de la mer, ordre à Mademoiselle (ce n’est plus la veuve, mais une Luxembourgeoise qu’elle n’aime pas, et qui a des joues de ballon rouge) de ne pas la laisser grabouiller, jambes nues, dans les flaques rocheuses où la crevette frétille.
Wann werden die Pariser Roman-Dichter aufhören, einer dem andern nachzuleiern und ihre Leser glauben zu machen, daß Luxemburg der Lichtstadt nur Kutscher und plumpe, unsympathische Dienstboten liefert?
Indes, nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte, leistete ich dem Verfasser innerlich Abbitte.
Es stellt sich nämlich heraus, daß unsere Landsmännin in der «Garçonne» das einzige anständige Frauenzimmer ist, die Einzige, von der nicht ausgesagt wird, daß sie an irgend einer Orgie beteiligt war.
Insofern wenigstens kommen wir bei dieser Sodom- und Gomorrhiade nicht schlecht weg.