Im Pompeji der Goetheforschung ist eine neue Ausgrabung zu verzeichnen. Der Graf d’Haussonville, Urenkel der Frau von Staël, hat in den Archiven des Herzogs von Broglie, der die Tochter der berühmten Schriftstellerin geheiratet hatte, einen Brief gefunden, den Goethe 1808 aus Carlsbad an diese nach Dresden geschrieben hatte.
Frau von Staël war damals vorübergehend in Dresden, um weitere Unterlagen für ihr Buch «De d'Allemagne» zu sammeln, das kurz darauf erschien und auf Befehl Napoleons eingestampft wurde. Sie bat Goethe, sie in Dresden zu besuchen. Er lehnte ab, weil, wie er schreibt, in Dresden die intellektuellen Lockungen und Kunstschätze der Großstadt und der Kreis, in dem sich Frau von Staël bewegte, eine intime Aussprache nicht ermöglicht hätten. Der „Temps“ vom 22. September gibt den Brief in der Übersetzung wieder, mit einem P. S. gezeichneten, sehr klugen Kommentar. P. S. hält es für wahrscheinlich, daß Goethe damals - er war 59 Jahre alt! - nicht nach Dresden fuhr, weil er seine Carlsbader Kur nicht unterbrechen wollte. Vielleicht habe er auch gedacht, es sei nicht weiter von Dresden nach Carlsbad, als umgekehrt. Als Weltmann konnte er Frau von Staël das nicht schreiben, als berühmter Mann und als Neunundfünfzigjähriger durfte er es denken. Der Olympier ließ die Gelegenheit verstreichen, sich eine gute Presse zu sichern, und tatsächlich stellt P. S. fest, daß Frau von Staël in ihrem Buch Goethe gegenüber sich zurückhaltender gibt, als bei jedem andern Deutschen, trotzdem sie für deutsches Dichten und Denken von damals überhaupt sehr begeistert war und im Gegensatz dazu sogar Frankreich heruntersetzte. Man dürfe darin aber nicht etwa verletzte Eigenliebe sehen, Frau von Staël sei aufrichtig gewesen, aber als Frau habe sie die Kunst und den Intellektualismus Goethe’s nicht voll zu erfassen übermacht.
P. S. sieht schließlich den wahren Grund für Goethe’s Absage in dem Wunsch, sich von der Vollendung der „Wahlverwandtschaften“ nicht durch Frau von Staël ablenken zu lassen. (Irgendwo sagt Goethe von ihr, sie sei reizend, aber sie wisse nicht zu gehen.)
„C’était une causeuse étincelante, schreibt P. S., mais intarissable.“ (Er spricht von dem ersten Aufenthalt der Frau von Staël in Weimar und ihrem Verkehr mit Goethe und Schiller.) „Elle les étourdissait de sa volubilité et les fatiguait de ses questions. Ils n’appréciaient pas autant qu’elle cet art de la conversation où elle excellait: ils ne croyaient point, comme elle, qu’on pût se renseigner suffisamment sur une métaphysique ou une esthétique par quelques interviews de salon ou quelques propos de table. Et surtout, surtout, elle leur faisait perdre leur temps. Gœthe n’en avait que trop perdu à Weimar, au service de son prince. La acessité de faire son œuvre s’imposait à lui, et il le pouvait l’improviser comme Mme de Staël dont les livres si remarquables à tant d’égards ne sont @pendant que de la conversation écrite. Ce problème du temps à ménager, du travail à défendre, est une obsession pour beaucoup de grands intellectuels. Une invitation, même d’amis très chers est à certaines moments une catastrophe. En 1808, reprès l’épisode de ses amours avec la jeune Minna Herzlieb, Gœthe écrivait les «Affinités électives», ou sa dernière bien-nimée paraît sous le nom d'’Ottilie. Il a préféré l’achèvement de son roman à la société de Mme de Staël, et pour nous, cela valait mieux.“