Original

30. September 1922

Mit bescheidenem Stolz zeigte uns unser Freund und Stammtischgenosse den eleganten Spazierstock, den ihm sein Vetter aus Patagonien mitgebracht hatte. Ein Kuriosum. Bestand aus lauter Sohllederscheibchen, die auf eine Stahlseele aufgereiht waren. Elegant und wuchtig zugleich.

Die Freude des Besitzers wurde ein wenig gedämpft durch die Feststellung, daß solche Stücke auch hierzuland schon Mode gewesen waren. Er hatte noch keinen gesehen. Für ihn war sein Stock aus Patagonien ein Unikum. Wie hätte man hierzuland ein so seltenes Stück fertig bringen können! Das war sicher minderwerttger Ersatz.

Freilich, so elegant waren die hiesigen nicht. Recht und schlecht zusammengebosselt. Aber sie standen in dem unheimlichen Ruf, eine tückische Wasse zu sein. Ein Schlag damit konnte einem Mann den Schädel zertrümmern. Das hatten sie mit dem Ochsenziemer gemein.

Es war die Zeit, wo man den Stock noch als Waffe trug. Er kam gleich nach der Faust. Heute haben ihn Messer, Browning und Schlagring verdrängt.

Soll man heute noch einen Stock tragen? Wozu? Früher war der Stock ein Zeichen der Mannbarkeit. Hosenmatze stolzierten mit dem Rohrstöckchen, auf das ein feines Netzmuster aufgetragen war, und es stand ihnen ebenso komisch zu Gesicht, wie Pfeife oder Zigarre. Man ging „wie ein Schneider“, wenn man keinen Stock trug, und die Mutter sagte vorsorglich: „Nimm einen Stock, damit du doch wenigstens die Hunde abwehren kannst!“ Mutterherz! Sie wollte nicht, daß die Hunde einem etwas antäten!

Wozu der Stock dient, das hängt ganz von der Mode ab. Die Mode fängt da an, wo die Not aufhört. Not war es dem Urmenschen, daß er sich mit einem Baumast bewaffnete, um zwei- oder vierbeinige Feinde abzuwehren. Not war es der Eva, daß sie ihre Blöße mit einem Feigenblatt bedeckte. Die Mode entstand erst mit dem Überfluß, als aus dem Urmenschen der Kulturmensch sich entwickelt hatte, der zu Abwehr und Angriff ganz andere Waffen erfunden hatte, als den Baumast, und der seine Frauen statt mit Feigenblättern, mit Samt, Seide und Pelzwerk bedeckte.

Da wurde auch der Stock aus der Waffe zu einem Modeartikel. Der Mann trug ihn und die Frau. Bald war er kurz, bald war er lang, bald unsäglich kostbar, bald kunstvoll einfach, bald glatt, bald rauh, bald schwer, wie eine Wagenachse, bald leicht, wie ein Bleistift. Sie erinnern sich der Zeit, wo man zum Training Stöcke von einem halben Zentner trug und damit zu balancieren suchte, als seien sie aus hohlem Bambus. Man gab sie ahnungslosen Bekannten auf eine Sekunde zu halten und freute sich diebisch über deren Verblüffung, wenn plötzlich die fünfzig Pfund sie am Arm rissen. Und dann fuchtelte man wieder mit federleichten Gigerlstöckchen herum. Bald faßte sich der Stock an der Krücke, bald an der unteren Spitze, und wer nicht Bescheid wußte, war in den Kreisen des guten Geschmacks verpönt, fast als hätte er zu Lebzeiten Edwards VII. seinen untersten Westenknopf zugeknöpft.

Es gibt trotz alledem auch heute noch wirkliche Gebrauchsstöcke. So z. B. den Sitzstock, den mein Freund Misch auf die Jagd mitnimmt und der schuld daran ist, daß er damals das Hauptschwein gefehlt hat. Feiner die „Grömmleschter“, die in Grümmelscheid erfunden wurden und als Symbol öslinger Treue und Zuverlässigkeit durch das ganze Land verbreitet sind.

Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist. Zu dem Umgang eines Mannes gehört auch sein Stock. In ihm prägt sich sein Charakter aus. Und wenn ein guter Freund mich in seinem Testament mit seinem Stock bedenkt, so ist das in meinen Augen der größte Beweis von Zuneigung und Vertrauen. Nun wißt Ihr, was Ihr zu tun habt. Ich auch.

TAGS
  • Cultural object
KatalognummerBW-AK-010-2229