Original

11. Oktober 1922

Eine literarhistorische Frage, über die sich die intellektuelle Welt seit siebzig Jahren aufregt, ist durch ein paar Amerikanerinnen und einen französischen General wieder in den Mittelpunkt leidenschaftlicher Erörterungen gestellt.

Es ist die Frage, ob die Dramen, die unter dem Namen William Shakespeare gehen, von Shakespeare oder von Francis Bacon sind. Zwei amerikanische Shakespeare-Forscherinnnen wollen in den Werken des Sir Francis ein System von Geheimschrift entdeckt haben, dessen er sich bediente, um sich zur Autorschaft der Werke Shakespeares und anderer zeitgenössischer Schriftsteller zu bekennen, und General Cartier, der während des Krieges Chef der geheimschriftlichen Abteilung der französischen Heere war, macht im Mercure de France die Leser mit dieser Entdeckung bekannt.

Natürlich wird die ganze Shakespeare- bezw. Bacon-Gemeinde zu der sensationellen Veröffentlichung für und wider Stellung nehmen. Aber auch ohne auf diesen oder jenen Glauben eingeschworen zu sein, wird sich jeder geistig Interessierte mit Eifer um die Gewinnung eines Urteils bemühen.

Denn es ist etwas Merkwürdiges um die Wertung des geistigen Eigentums. Es gibt Leute, die die Achseln darüber zucken, daß sich andere über einen Plagiator entrüsten oder darüber, daß jemand einem andern die Autorschaft eines Werkes abkauft. Für sie ist jede geistige Arbeit, die im Druck erschienen ist, Gemeingut, und wenn gar ein Herr X. einem Herrn Y. Geld dafür bezahlt hat, daß er auf das Titelblatt eines Buches von Y. den Namen X. setzen darf, so finden sie alles in schönster Ordnung.

Der Fall Shakespeare Bacon regt uns aber noch in anderer Beziehung auf. Es beschäftigt unsere Vorstellung aufs lebhafteste, was zwei Menschen, deren Wesen für uns heute je eine ganze Geistesprovinz bedeutet, bis in Herz und Nieren hinein für Kerle waren. Man begeht beim Nachdenken über die Großen der Vergangenheit oft den Fehler, daß man an sie die moralischen Maßstäbe anlegt, die heute gang und gäde sind. Unter dem Shakespeare der Werke, die seinen Namen tragen, stellt man sich einen allerseits außergewöhnlich hochstehenden Menschen vor, desgleichen unter dem Genie Bacon von Verulam. Nach den neueren Biographien Shakespeares wäre er menschlicher Ausschuß gewesen, ein gründlich ungebildeter Rohling, der es beim Theater kaum weiter, als bis zu einer Art Bühnendiener, sonst aber zu einem ansehnlichen Vermögen brachte, das er durch gemeinen Wucher immer noch zu vermehren trachtete. In seinem Nachlaß fand sich weder eine Zeile Manuskript, noch ein Buch, seine beiden Töchter waren Analphabetinnen, von ihm selbst besitzt man als schriftlichen Nuchlaß nur sechs zitterige, rohe Unterschriften, von denen die Graphologen vermuten, ein Schriftkundiger habe Shakespeare dabei die Hand gesührt, da er selbst nicht habe schreiben können und außerdem stark alkoholisiert gewesen sein müsse.

Fügt man diesem Bilde hinzu, daß der „Schwan von Avon“ möglicherweise vom Ehrgeiz geplagt war, als Schriststeller zu glänzen, und die Lorbeeren, die nicht in seinem Garten wachsen wollten, käuflich erstand, so fügt sich menschlich sittlich sehr schön eins zum andern.

Die Bekenntnisse, die Francis Bacon in seine Werke kryptographisch hineingeheimnißt haben soll und die jetzt von den eingangs erwähnten Amerikanerinnen angeblich ausgegraben wurden, sagen natürlich nichts davon, daß Sir Francis für seine Shakespeare-Dramen Geld genommen hätte.

Handelte es sich darum, daß vor beiläufig dreihundert Jahren irgendwo ein Mann mit den Millionen eines andern Mannes um sich geworfen hätte, so ließe das die Nachwelt vollkommen kalt. Aber da es sich um geistiges Eigentum handelt, das unter falschem Namen gehen soll, ist der Streit aufs leidenschaftlichste entbrannt.

Was also eigentlich beweisen würde, daß eine schöne Dramenszene größeren und bleibenderen Wert hat, als ein Haus in irgend einer Großstraße oder eine Schublade voll Banknoten.

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  • Shakespeare's authenticity
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