Original

17. Oktober 1922

Mein Freund Ping Pang schreibt über die BaconShakespeare-Frage einen Artikel. Er erklärt darin zuerst, es sei ihm vollständig egal, ob Bacon oder Shakespeare den „Hamlet“, den „Othello“ und sämtliche Shakespearedramen geschrieben hat.

Diese Gleichgültigkeit, sagt er, habe ihn frappiert, und er sei ihren Gründen nachgegangen.

Dieses hätte er sich schenken können, nachdem er selbst seinen Freunden erklärt hatte, er simuliere dem Problem Bacon-Shakespeare gegenüber eine so brutale Wurschtigkeit nur, um Herrn Walter Colling zu ärgern, der sich, als früherer Shakespeare-Darsteller, für dasselbe Problem glühend interessiert.

Spaß beiseite. Die Gleichgültigkeit, zu der sich Ping Pang fälschlich bekennt, wird von vielen andern behauptet, in der Presse, in Gesprächen usw.

Zu ihrer Ehre nehme ich an, daß sie sie ebenfalls simulieren, aus Widerspruchsgeist und weil der Mensch von heute - der dafür noch kein moderner Mensch zu sein braucht - überzeugt ist, daß ihm ein Schuß Skepsis gut zu Gesicht steht.

Nachdem Ping Pang über die Gründe seiner Gleichgültigkeit nachgedacht hat, kommt er dahinter, daß der schöpferische Mensch, der hinter den Shakespeare’schen Dramen steht, ihm in seiner Wesenheit nie lebendig war. Die Persönlichkeit wurde im gigantischen Werk ertränkt, sagt er, er konnte zu ihr keine Beziehungen finden. Wie anders stehe dagegen Goethe da usw.

Ping Pang hat recht. Zu Shakespeare, wie ihn die neuesten Forschungen in seiner Persönlichkeit umschreiben, war als dem Dichter der Shakespearedramen überhaupt kein Verhältnis zu gewinnen. Wer also in richtigem Gefühl das Werk von seinem Schöpfer nicht trennen kann und will, schwebte Shakespeare gegenüber mit diesem Gefühl in der Luft. Kann er sich damit aber an eine so lebenswarme Persönlichkeit, wie Bacon, klammern, so springen ihm tausend Beziehungen und Zusammenhänge auf, wo sonst die Wege ins Nichts führten. Und es erzwingt leidenschaftliche Teilnahme, daß die, die an die Autorschaft Bacons glauben, nunmehr diese Seite seines Schaffens mit seiner Persönlichkeit überhaupt in Einklang bringen müssen.

„Also dieser mit der Bürde eines verantwortungsreichen Amtes beladene Staatsmann, der gleichzeitig einer der universellsten Gelehrten seiner Zeit gewesen, hat so ganz nebenbei diese Dichtungen geschaffen!“ So meint Ping Pang von Bacon und ganz genau so könnte er von Goethe meinen. Zwischen Stoff und Stil des Novum Organum und den Falstaffiaden der Shakespearedramen ist sicher kein größerer Unterschied, als zwischen den wissenschaftlichen Werken Goethes und seinem Goetz, seinem Werther und seiner Lyrik.

Die Gleichgültigen mögen noch so laut versichern, es mache für uns keinen Unterschied, ob Schulze oder Müller die Shakespearedramen geschrieben habe, es bleibt doch wahr, daß wieder einmal eines der aufregendsten Probleme der Literaturgeschichte aufgerollt ist. Wir stehen mitten in einem Drama, das in seiner Wirklichkeit, in seiner ganzen Anlage und seinem Vorwurf so spannend und so packend ist, wie „König Lear“, und „Othello“.

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  • Frantz Clément
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