Original

24. Oktober 1922

Warum fiel dies alte Weisheitssplitterchen mir ein, als eben ein guter Freund mir seinen Tadel über die Haufen von Zeitungen, Büchern und Briesen auf meinem Schreibtisch aussprach?

Weil ich im Unterbewußtsein die beiden Männer zusammen hielt, die sich Kopf wie Arbeitstisch vor vielfältigem Andrang zu bewahren wissen. Die Eingleisigen. Sie sind die Starken, die immer Bereiten.

Und da fielen mir zwei Schreibtische ein, Symbole der Männer, die an ihnen gearbeitet haben und den größten Gegensatz verkörperten, der je von Mann zu Mann bestanden hat.

Einer ist tot. Warum soll ich ihn nicht nennen? Es war der Regierungsrat Henrion. Sein Schreibtisch war ein Mikrokosmus der Verwaltungen, in denen er tätig war. Denn er war in vielen, ich kann wohl sagen in allen Verwaltungen tätig. Er war dafür bekannt, daß er keinem Herrn Minister etwas abschlagen konnte. Sobald einer in seiner Tätigkeit oder Untätigkeit auf einen Astknoten stieß und es wollte nicht mehr recht vom Fleck, oder es gab ein Schubfach, eine Sparte, eine Liquidierung, die sich alle andern vom Leib hielten, so wurde der gute Herr Henrion mobil gemacht. Und so häuften sich aus allen Richtungen der Windrose auf seinem Schreibtisch die Sendungen, Akten aller Art, Eingaben, Gesuche, Reklamationen, Bücher, Broschüren, Zeitungen. Drei Briefträger genügten kaum, all das Papier heranzuschleppen, das auf den armen Henrion zuflog, wie Eisenfeilspäne auf den Magneten. Sie können sich denken, wie es auf seinem Schreibtisch aussah. Was sage ich: auf seinem Schreibtisch? Sein ganzes Zimmer war ein Schreibtisch. Wenn Sie zu ihm kamen, sahen Sie ihn erst gar nicht. Er verschwand hinter einem Stapel von Aktenbündeln. Erst wenn er aufstand, wurde er sichtba. Dann kam er Ihnen mit ausgestreckten Händen und freundlichem Lächeln entgegen, aber er mußte zwischen andern Stapeln von Altenbündeln, die den Fußboden bedeckten, einen wahren Eiertanz aufführen, um die paar Schritte bis zu der Türe zurückzulegen, wo er seinen Besucher in Empfang nahm, um ihn zu der nächsten Sitzgelegenheit zu bugsieren. Erst mußte er allerdings einen Stuhl freimachen, denn auf allen Tischen türmten sich wiederum andere Stapel von Aktenbündeln. Seine Hände schwebten über diesem Ozean von Papier, wie die Hände Chopins über einer Klaviatur, da schlug er den Akkord Mondorf an, da den Akkord Kaninchenzüchterausstellung, da den Akkord Maturitätsprüfung, da den Akkord Königlich Großherzogliches Institut, da den Mißakkord Fall Soundso usw. usw. Und nachts träumte er davon, daß er auf Verlangen der Europamächte die Zustände auf dem Balkan ordnen müßte und daß er in lauter Papier ertrank.

Sein Gegenpart war ein Mann, der einer der Feldmarschälle der Großindustrie geworden ist und in einem Jahr mehr verdient, als Regierungsrat Henrion in seinem ganzen Leben.

Wenn man zu ihm kam, saß er an seinem Schreibtisch und trommelte mit dem Falzbein auf der geschliffenen Glasplatte. Die ganze rechtwinkelige Fläche dieser Platte glänzte im Licht und spiegelte die vier Wände, an denen nichts hing, nicht einmal eine Ansicht der Werke, deren Schlote in der Nähe rauchten. Nichts war auf dem Schreibtisch zu sehen, als ein Notizblock, ein schwarzer, ein roter und ein blauer Bleistift, Tintenfaß und Feder und ein Aschenbecher. Es sah dort in jeder Minute aus, wie am Vorabend großer Feiertage: Alles aufgearbeitet bis aufs letzte Tüpfelchen. Ein Neues durfte kommen, es war sofortiger Erledigung sicher. Der Mann besaß die Kunst des Abschiebens, des Verteilens der Arbeit, genau wie der andere umgekehrt die Leidenschaft des Allesselbstmachenwollens.

Wessen Leben das reichere war oder hätte sein können, will ich nicht entscheiden.

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