Original

1. November 1922

Ein junger Mann, der unweit. Wormeldingen zuhaus und in Luxemburg in Stellung ist, bittet mich, folgenden Brief an den Bautenminister Herrn Leidenbach zu veröffentlichen:

Sehr geehrter Herr Minister!

Morgen muß ich wieder nachhaus auf die Gräber fahren. Das wäre sonst eine angenehme Reise, man sieht allerlei Bekannte und kann den Grächen probieren. Aber seit einiger Zeit ist es schrecklich. Die Straße um Kanach und Lenningen ist so voll Löcher, wie ein Zwetschgenkuchen, von dem die Kinder alle Zwetschgen fortgenascht haben. Und wenn man ohne Eingeweideverschlingerung am Ziel seiner Fahrt ist, kann man sich Glück wünschen.

Kürzlich erlebten die Passagiere des Autobus Ötringen Wormeldingen eine große Freude. Sie sahen eines Sonntags vormittags Ihre Kollegen, die Herren Staatsminister Reuter und Finanzminister Neyens in den Wagen nach Wormeldingen steigen.

„Aha!“ dachten sie. „Jetzt werden die Herren von der Regierung auch einmal gerüttelt und geschüttelt, dann können wir hoffen, daß sie bei Herrn Leidenbach ein Wort für uns einlegen.“

Die Freude war von kurzer Dauer. Die Herren überlegten es sich nämlich anders und gingen zu Fuß. Da sie ein besseres Mittagessen in Aussicht und schönes Wetter hatten, war eine kleine Vormittagspromenade durchaus angezeigt. Aber so erfuhren sie leider nicht, wie es tut, wenn man von Kanach bis Lenningen in einem vollen Wagen durcheinandergerüttelt wird, wie die Würfel im Becher.

Herr Nats und seine Chauffeure geben sich ja alle erdenkliche Mühe, ihren Wagen an den Löchern vorbeizusteuern. Sie sollten sehen, wie sie das schwere Gefährt bald rechts, bald links an so einem kleinen Bombentrichter vorüberwerfen, es hilft nichts, es sind ihrer zuviele, sie liegen so dicht an einander wie Pockennarben. Und das gibt Ihnen jedesmal einen Stoß durch Eingeweide und Magen und die ganze Wirbelsäule hinauf, Vielleicht wäre das als Kur bei Tabetikern zu versuchen. Wenn ein lahmes Rückgrat von diesen Stößen nicht mehr wach und munter wird ist ihm nicht zu helfen.

Leider bleibt es nicht bei dieser individuellen Auswirkung, jeden Augenblick kollidieren Sie mit Ihrem Nachbarn oder Ihrer Nachbarin. Ja, wenn die Nachbarin immer so ein molliges Gretchen oder Mariechen wäre, da ließe man sich einen Zusammenstoß gern gefallen. Da könnte der Wagen meinetwegen in einen Straßengraben fahren und ein paar Stunden darin stecken bleiben. Aber man wählt sich seine Nachbarn leider nicht, und wenn Sie plötzlich Wange an Wange, Brust an Brust mit einem alten Bauersmann liegen, oder mit einer Obstverkäuferin im überkanonischen Alter, so vergeht Ihnen der Spaß an der Carambolage.

Und vollends, wenn die Reise sich im Herbst zwischen der Mosel und ihrem nächsten Hinterland abwickelt. Sie wissen ja, was der Grächen für ein übelnehmerischer Gesell sein kann. Wird der zuviel herumgestoßen, so sagt er: „Laßt mich wieder heraus!“ Das war voriges Jahr schlimm genug, und heuer soll es noch schlimmer sein.

Ich hoffe, an jenem Sonntag sind die Herren von der Regierung mit dem Abendauto zurück nach Ötringen gefahren und haben wenigstens so herum die Hopserei mitgemacht. Und ich hoffe mit meinen sämtlichen Leidensgenossen, Herr Leidenbach, daß Sie mit uns Mitleid haben und die Strecke schön werden walzen lassen.

In dieser Zuversicht verbleibe ich ergebenst

Ihr Matthis Kranemick.

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KatalognummerBW-AK-010-2256