Original

5. November 1922

An unserer Mosel war die letzten Wochen über eins interessant: Diesmal nicht, was sie pfluckten, aber wer es pflückte.

Im Herbst war schon von jeher nach der Gegend von Wasserbillig bis Schengen von drüben her eine Art Sachsengängerei gewesen. Wie die Weiber aus dem Osten nach Sachsen zogen, um in Rübenbau einen schönen Tagelohn zu verdienen, so kamen von drüben Burschen und Mädels zur Lese ins Luxemburgische. Aber es war immer kräftiges Bauernblut, an schwere Erdfron gewohnt, in derbem Bauernzeug und dickgesohltem Schuhwerk, das dem steilen Boden in jeder Witterung standhielt.

Und diesmal! Ein tragikomisches Sammelsurium von Menschengut, das unsere Edelvaluta herübergelockt hatte. Wenn man hier an einem Tag 3500 Mark verdienen und sich dabei zu jeder Tischzeit satt essen kann, stellt man alle gesellschaftlichen und senstigen Vorurteile in die Ecke und greift zu. Und so sah man über die Brücken herüber allerhand junges Volk ziehen, das nach allem andern, als nach Hottenträgern und Traubenleserinnen aussah Studenten. Kommis. Kellner und Kellnerinnen, Schnorrer, Nähmamsells, galante Damen, die auch einmal in vertikaler Stellung ihr Brot verdienen wollten usw. usw.

An Allerheiligen begegnete mir der Franz mit einer Kleinen von der Sorte, die wir hier als „Dickelchen“ bezeichnen. Sie war höchstens sechzehn, drall und rundlich, das schnippische Gesicht von braunem Gelock umschäumt, modisch herausgemacht, sah eher wie ein vornehmer Besuch aus der Stadt, als wie eine Leserin zu sechs Francs täglich aus. Und doch war sie es gewesen. Und wacker hatte sie sich gehalten, die kleine Triererin, war mit den asphaltund pflastergewohnten Füßchen, die jetzt in ausgeschnittenen Schuhen staken, tapfer in dem durchweichten Erdreich der steilsten Rebberge herumgestiegen, hatte die Mausezähne aufeinander gebissen, wenn ihr vom Frost die Finger klamm wurden, und hatte die Zunge nicht in die Tasche gesteckt, wenn das Mannsvolk zu deutlich werden wollte.

Ein männliches Gegenstück zu ihr war der vornehme Schneider. Er war Hottenträger bei „Schmatten“ und trug seine Hotte so gut und so schlecht, wie sie ein Schneider tragen kann. Sonntags aber war er ein Mensch - „hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ Tip top von der Fußsohle bis zum Scheitel. Und was für ein Scheitel! Da war Schwung drin, Linie, Disziplin und Pocsie zugleich. Und die Bügelfalten der Hose, der taillenfeste Sitz der braunen Phantasieweste, der Rhythmus des schlanken Cutaway, das alles harmonisierte sich zusammen zu einem Ganzen, das ein Gedicht war, ein Gedicht mit dem Titel: Der Schneider am Sonntag.

Ich lernte noch eine dritte dieser exotischen HerbstEintagsfliegen kennen. Es war ein blasser junger Mann, eigentlich noch ein Knabe, aus der Gegend von Lemberg. Er hieß im Dorf überall. „Keesesch hire polnesche Jud.“ Er hatte das feinste Profil, das ich lange bei einem jungen Manne gesehen, ein Künstlergesicht, das an den Wunderknaben Maurice Dengremont erinnerte. Er sah aus, wie ein frühreifer Geigenvirtuose oder wie ein Schachmeister. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er plötzlich angefangen hätte, mir von Einstein zu reden. Als er mir die Hand gab, erschrak ich. Sie war hart und rauh wie alte Baumrinde. Ich prophezeite ihm, daß er in der Haut eines Millionärs sterben würde. Da sagte er mit sanfter Verachtung: „Was ist heute ä Million!“

Und so sorgen die Zeitumstände dafür, daß die Lese bei der ein so minderwertiges Zeug eingeheimst wird, wenigstens des Humors und des farbigen Einschlags nicht entbehrt. Aber allmählich fällt dem sonst so zähen Moselaner doch der Mut in die Schuhe. Ich saß dabei, wie vier eine Partie Whist spielten. Dabei ergab es sich, daß einer einen Solo Schlemm in der Hand, aber nicht den Mut gehabt hatte, ihn anzusagen.

„Was wollt Ihr!“ sagte er kleinmütig, als die andern mit Spott und Hohn über ihn herfielen. „Man kann heutzutage gar nicht mehr wissen, wie eine Sache ausgeht. Denkt daran! Im Sommer hatten wir mit den Trauben auch einen Solo Schlemm in der Hand, und jetzt ist er doch verschüttet!“

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