Original

26. November 1922

Die zweite Nummer der Monatsschrift „Ons Bühn“ enthält einen beherzigenswerten Aufsatz von D. Schlechter über Kritik. Herr Schlechter ärgert sich besonders temperamentvoll über die Kritiker, die für ihre Meinung nicht ihren ehrlichen Namen einsetzen. Hierzu eine kleine mise au point.

Es gibt eine aktive und eine passive Anonymität. Die passive Anonymität ist nicht so schlimm, sie ist oft sogar lobenswert. Sie ist eine Art Lampenfieber, Diskretion, Bescheidenheit, Scheu davor, sich vor die Front zu drängen, auszusehen, als ob man glänzen oder seine Meinung aufdrängen wollte, kurzum, sie entspringt anständigen Beweggründen. Manchmal ist sie auch ein Schild, hinter dem sich jemand schützt, der für eine gute Sache streitet, und der durch Preisgabe seiner Person mit dem Kämpen zugleich die Sache verderben würde.

Das alles gilt nicht für den aktiven Anonymus. Dieser ist der geborene Feigling und Schwächling, der seine Dreckkügelchen aus dem Hinterhalt wirft, weil er Angst hat, daß ihm sonst das Sitzfleisch vermöbelt wird. Es sind über ihn weiter keine Worte zu verlieren.

Es gibt ein unfehlbares Mittel, den aktiven vom passiven Anonymus zu unterscheiden. Man braucht sie nur aufzufordern, sich zu nennen. Der passive Anonymus wird zwar manchmal ungern, aber doch offen und ehrlich aus seinem Versteck heraustreten, er hat dabei oft sogar mehr zu gewinnen, als zu verlieren.

Der aktive Anonymus aber kriegt es mit der Angst und wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, daß er ans Tageslicht herausgezerrt wird. Lassen wir ihn auf seinem Kritikerabort ruhig weiter notdürfteln. Seine Produkte gehören in die Schwemmkanalisation.

Herr D. Schlechter schreibt:

„Wenn z. B. in irgendeinem Blatt, irgendein Anonymus über eine sonst anerkannte Künstlergruppe sich in derben Kraftausdrücken seine Verbittrung vom Leibe schreibt und in ebendemselben Blatte eine unkünstlerische Amateuraufführung in Xdingen, ebenfalls anonym, mit den hochtrabendsten Lobeshymnen bedacht wird, dann muß sich der Leser doch über die Kritik im allgemeinen seine eigenen Gedanken machen.“

Auch da läßt Herr Schlechter in seinem jugendlichen Feuer für Schönheit, Wahrheit und Klarheit ein kleines distinguo außer Acht. Er wird mir gerne zugeben, daß bei den meisten Darbietungen der heimischen Produktion mehr der gute Wille als der intrinsische Wert in den Vordergrund gerückt sein will. In dem Maße jedoch, wie damit eine Absicht des Erwerbs verbunden wird, muß auch die Kritik strenger zugreifen. Aber auch dann muß notgedrungen noch ein Unterschied gemacht werden, nicht im Interesse der Kunstproduzenten, sondern im Interesse der Kritik, die gewissen Leistungen wirklich zuviel Ehre antäte, wenn sie sie mit denselben Maßstäben messen wollte, wie die marktgängige Auslandware. Wenn z. B. ein sentimentaler Hämorihoidarier eine Tragödie schreibt „Der Muttermord von BeilerLeithum“, so ist es offenbar ein Mißgriff, an ihn mit denselben Ansprüchen, wie an Bernard Shaw oder Unruh oder Cladel heranzutreten. Was bliebe von dem Ärmsten denn noch übrig?

In solchen Fällen hat der Kritiker, der eine Zeitlang in der Branche tätig war, ein Schock Clichés zur Hand, die dem Verfasser des „Muttermörders“ nicht ohne Not wehe tun und keinen Kundigen täuschen. Wenn ich in der Kritik eines gewissen Kollegen z. B. den Satz läse „Ehre wem Ehre gebührt“, so wüßte ich genau Bescheid.

Im übrigen glaube ich, daß natürliches und ehrliches Empfinden und Wollen zusammen mit dem Bestreben, das Bedürfnis nach feuilletonistischen Lorbeeren in anständigen Schranken zu halten, den Fundus des Kritikervermögens ausmachen müssen.

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