Original

29. November 1922

Wenn sich an der Schwelle der Menschheitsgeschichte zwei unserer Urahnen unversehens begegneten, gingen sie mit Fäusten und Zähnen, Steinblöcken und Baumästen aufeinander los. Denn alles Lebende war alles Lebenden Feind.

Gestern fiel der erste Schnee. Und in der Jugend, die um zwölf Uhr aus den Schulen quoll, stiegen die Urinstinkte auf, die die Menschen der Steinzeit gegeneinander als Feinde aufrichteten. Mit Steinen dürfen sich unsere Sprößlinge nicht bewerfen, an die Gurgel dürfen sie sich auch nicht springen, da halten Polizei und Schule Ordnung. Aber mit Schneeballen dürfen sie Mord und Totschlag markieren. Freilich ohne Schlimmeres zu denken, denn die Urinstinkte, die aufs Ganze gingen, sind heute gezähmt, sittsam und salonfähig geworden.

Aber qualitativ sind sie dieselben geblieben. Und es ist höchst merkwürdig, mit welchem Eifer bei der Schneeballenschlacht die Buben sich gegen die Mädchen wenden. Es ist nicht nur angeborene Feigheit, Versuchung, sich an dem Schwächeren zu vergreifen, weil man Vergeltung weniger zu fürchten hat, es ist das Urgesetz, wonach im Verhältnis der Geschlechter zueinander Feindschaft den bitteren Untergrund bildet. „Was sich liebt, das neckt sich,“ ist ein Wort, das dies Gesetz höflich abschwächt. Liebe ist Kampf; in der innigsten Verschmelzung lauert der Trieb der Vernichtung - Vernichtung des Gefäßes oder des Schöpfers, nachdem für das Geschaffene gesorgt ist. Ein Trieb, der vom Schneeballenwerfen bis zum wahnsinnigen Biß und zum Totschlag geht...........

Der Schnee in unsern Breiten ist mir zuwider. Er ist nicht Fleisch und nicht Fisch. Er liegt über unserer Erde, wie ein zerfetztes Linnen. Etwas Unerfreuliches, Unorganisches, Fremdes, das lästig und geschmacklos hinzugefügt erscheint. Sie sehen, ich rede davon nur visuell, ich fasse ihn nicht auf als Gelegenheit zum Rodeln und zum Ski-Fahren. Ich stehe ihm mit rein ästhetischen Empfindungen gegenüber. Warum soll der Schnee schöner aussehen, als eine graugelbe Staubdecke? Ist weiß unbedingt schöner als das Graugelb manchen Staubes? Aber der Staub ist verpönt, weil er nicht hingehört, weil wir wissen, er muß weggewischt werden, er ist ein zudringlicher Geselle, der uns Form und Fläche der Dinge entstellt, zudeckt.

Tut denn der Schnee nicht dasselbe? Zerreißt er uns Wälder und Bergeshänge, die sich in der Farbe der Erde und Halme und Bäume weich und harmonisch unter unserm Blicke runden, - zerreißt er sie nicht in mißfarbene Willkür, weiß und braun und grau, ohne Schwung und ohne Adel, ein häßliches Provisorium, das aussieht, wie eine Stube, in der die Stühle auf dem Tisch stehen, die Bilder mit dem Gesicht an die Wand gelehnt sind und Sofa und Sessel unter schäbigen weißen Uberzügen verschwinden.

Nein, wir haben keine Gegend und kein Klima, in denen sich die Schönheit des Schnees entfalten könnte. Um schön zu sein, muß der Schnee die Landschaft ganz beherrschen. Das Weiß muß unisono klingen, wie eine Musik, die aus dem Raum geboren wird und nur durch Einfachheit und Größe schön sein kann. Und die beschneite Welt darf nicht sein wie ein Grab, aus dem von dem Toten die Nasenspitze und ein paar Zehen und ein Rockzipfel hervorstehen. Weiß, weiß und weiß muß es sich um Dich breiten, und wo ein Felsgrat hervorschaut, ist es nicht ein Gestorbenes, sondern ein von Ewigkeit her Erstarrtes. Nicht der Tod ist häßlich, nur das Sterben.

Solchen Schnee gibt es bei uns nicht. Vielleicht auf Stunden, höchstens Tage, dann beginnt wieder der Zwiespalt. Aber auf den weiten Steppen liegt jetzt die ungebrochene weiße Pracht, und in den Bergen ist der Schnee der Herr über alles. Da ist er nicht mehr das Unorganische, Nebensächliche, da ist er jetzt die Hauptsache, in seinem Zeichen stehen Dinge und Menschen. Da ist er etwas an und für sich. Hier ist er nur etwas, woraus Dreck gemacht wird.

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