Original

1. Dezember 1922

Die Initiative, die kürzlich Herr J. Imdahl mit der Zeitschrift „Ons Bühn“ ergriffen hat, macht die Stellung einiger Grundfragen notwendig: Müssen, sollen, können wir ein luxemburgisches Nationaltheater haben, und wie?

Müssen? Nein, wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, daß wir im Leben nur für Nahrung, Kleidung und Wohnung zu sorgen haben, allenfalls noch für Bier und Tabak.

Sollen? Ja, wenn wir der Meinung sind, daß der Mensch das Recht und die Pflicht hat, in sich auch andere Fähigkeiten zu entwickeln, als die, die für des Leibes Notdurft da sind, und daß, was vom Einzelnen gilt, auch von einer völkischen Gemeinschaft wahr ist. Daß nichts so sehr geeignet ist, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit zu stärken, wie der gemeinsame Besitz geistiger Güter, die aus den Tiefen des Volkstums gewonnen sind. Daß das Theater für alles Geistige die stärksten und nachhaltigsten und weitest wirkenden Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Usw. usw.

Können? Warum nicht? Wir sind nicht dümmer, als andere, als die Straßburger und Schlierseer und Oberammergauer und andere. Dies von den Darstellern gemeint. Was die Produktion betrifft, so hatten wir bisher die Masse eher als die Qualität. Aber daran war die Anarchie schuld, die bis jetzt in unserm Theaterbetrieb herrschte. Jeder schrieb und spielte drauf los, wie er konnte. Gesetzt, es bildet sich mit der Zeit ein Stab von Darstellern heraus, die den Namen Berufsschauspieler verdienen: Dann wird auch von selbst im Stücke-Fabrizieren der blutige Dilettantismus zu Ende gehen. Denn Schauspieler von Beruf werden ihr Können nicht an wertlose Schmarren verschwenden; bis ein Stück auf die Bühne gelangt, wird es von zuständigen Faktoren auf Herz und Nieren geprüft werden, und so ergibt sich das höhere Niveau durch wechselseitige höhere Ansprüche.

Wie aber soll dieser Stab von Darstellern herangebildet werden?

Genau, wie sonst überall.

Die Kunst der Menschendarstellung ist uns nicht angeflogen, nicht mehr, als andern Völkern. Wir müssen sie lernen. Und da wir keine Lehrer im Land haben, müssen wir sie uns von auswärts verschreiben. Schon vor Zeiten wurde hier angeregt, daß ein Verein, der gute Kräfte besitzt, den Erlös aus seinen Theaterabenden darauf verwenden sollte, einen oder mehrere anerkannt gute Schauspieler während der Bühnenferien nach Luxemburg kommen und durch ihn die Vereinsmitglieder unterrichten zu lassen.

Ob bei uns auf den Berufsschauspieler loszusteuern sei?

Auch da kann man fragen: Warum nicht? Ich denke natürlich nicht gleich an eine Truppe von zwei, drei Dutzend Mitgliedern, aber für jedes Fach könnte wenigstens ein Vertreter bezw. eine Vertreterin da sein. Andere stünden zum Theater in einem loseren Verhältnis, aber unbedingt unter den Regeln einer festen Hausordnung, die allein das Loskommen von allen Miseren des Dilettantismus ermöglicht.

Und das müssen sich alle gesagt sein lassen, die es eventuell auf die luxemburgische Nationalbühne ziehen wird: Ohne Arbeit und ohne Disziplin geht es nicht. Da soll man lieber gar nicht anfangen. Heute gefällt sich jeder, der ohne allzu starken Tatterich auf der Bühne drei Worte singen und sagen und drei Schritte tun kann, in genialischen Allüren, setzt seine Ehre drein, keine Rolle zu lernen, keine Probe mitzumachen, keine Zusage einzuhalten, usw. Der Berufsschauspieler aber ist in dem Maße im sozialen Ansehen gestiegen, wie sich seine Existenz auf geregelte Arbeit und sichere Normen gegründet hat.

Auch bei uns wird der Berufsschauspieler nur möglich sein, wenn das Schauspielen im besten Sinne zum Beruf wird.

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KatalognummerBW-AK-010-2279