Original

3. Dezember 1922

Ein Mann torkelte mit stieren Augen an mir vorbei.

„Wenn sie mit MIR anfangen, kann es schön werden!“ stieß er heraus und ballte mit einer unsicheren Stoßgebärde des rechten Arms die schwielige Faust.

Mit mir! Dieser Betrunkene sah sich als Nabel der Welt, als Mittelpunkt der Schöpfung. Er bezog alles, was in seiner eingeengten Vorstellung noch lebte, auf sich, sah Feinde ringsum und sich als glorreichen Sieger inmitten. Und es hatte ganz sicher niemand mit ihm „anfangen“ wollen.

Diese egozentrische Einstellung des Individuums ist wiederum sozusagen ein Trick des allgütigen und allweisen Schöpfers. Er wußte sehr wohl, wenn nicht jeder zuerst für sich sorgen würde, so würden alle sich um alle den Teufel scheren. Und wo kämen wir dann am Ende hin mit der schönen Welt! Es wäre, wie wenn plötzlich die Schwerkraft aufgehoben würde und alles plan- und haltlos herumflöge.

Der Egoismus ist also nicht so verächtlich, wie ihn die Idealisten und Tugendbolde und Altruisten machen wollen, wobei man immer denken muß, daß sie heimlich Wein trinken und öffentlich Wasser predigen. Der Egoismus ist die notwendige, angeborene Schwerkraft des Individuums. Das stärkste und gesündeste Volk der Erde ist das, das Ich immer groß schreibt, wie Gott.

Die andern nennen es ein Krämervolk. - Heb dich weg, damit ich mich hinsetze! - Jeder, der auf den Egoismus schlecht zu sprechen ist, hofft, daß er umso besser fahren wird, je weniger die andern an sich und je mehr sie an ihn denken. Wenn von sechs Brüdern einer auf sein väterlich Teil verzichtet, wird er von den andern als edler Mensch und Christ gepriesen. Aber wenn er nachher am Verhungern ist, geben sie ihm nichts und nennen ihn Unnütz und Bettler.

Also lassen wir den Geist nur machen. Er hat uns die Selbstsucht anerschaffen, er wußte warum. Es klingt zwar nicht nach feiner Kinderstube, wenn einer immer sagt: Ich eß die Leber am liebsten gebacken, oder: Ich habe immer gesagt. ... Und wenn er immer nur von sich ausgeht. Aber das klingt nur deshalb unfein, weil jeder andere, der es hört, von sich glaubt, er sei selber die Hauptsache und es müsse von ihm ausgegangen werden.

Dies Naturbedürfnis, sich in den Mittelpunkt der Welt zu stellen, schwächt sich erst dann ab, wenn die Not, um seine Geltung zu kämpfen, bei dem Einzelnen nachläßt, oder wenn der Kämpfer bei der Degenführung eine solche Eleganz entwickelt, daß ihm keine Anstrengung mehr anzumerken ist. Er vermeidet den Ich-Stil, entweder weil er ihn nicht mehr nötig hat, oder weil es vornehm ist, so zu tun, als habe er ihn nicht mehr nötig.

Es gibt eine andere Lebenslage, in der das Individuum sich nicht mehr als die Hauptsache im Kosmos vorkommt. Ich war noch nie in dem Fall, aber ich denke mir, daß es logisch so sein muß. Das ist, wenn der Mensch in articulo mortis seine Umwelt in ihrem brutalen, gefühllosen Fortbestand auf sich zukommen, über sich emporwachsen, ihn zudecken und beseitigen sieht. Dann wird ihm auf einmal klar, daß es auch ohne ihn geht, das das Nächste und das Fernste seines Daseins und seines Eingreifens sehr wohl enraten kann. Und er, der vor sich selber immer eine Welt war, DIE Welt!, er wird zum Atom, er wird sich seiner Winzigkeit bewußt, weil er nicht mehr zu kämpfen berufen ist. Nur neronisch verschrobene und krankhaft hypertrophierte Geister können erlöschen mit dem Empfinden: Qualls artifex perco!

Wie gesagt, ich war nie in dem Fall, aber mit ein wenig Phantaste und Logik kann man sich hineindenken.

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  • industry as centre of universe on egotism
KatalognummerBW-AK-010-2281