Der deutsche Generaloberst Helmuth v. Moltke, der beim Ausbruch des Krieges 1914 Chef des Großen Generalstabs war und am 16. Juni 1916 gestorben ist, nachdem er gleich im September 1914 nach dem Rückzug von der Marne von seinem hohen Posten auf Befehl des Kaisers „wegen Krankheit“ zurückgetreten worden war, hat Erinnerungen, Briefe und Dokumente hinterlassen, die jetzt von seiner Witwe Eliza v. Moltke herausgegeben werden und aus denen die „Frankfurter Zeitung“ Auszüge veröffentlicht.
Darunter finden sich ein paar Stellen, die gradezu erschreckend wirken müssen. So schreibt Moltke am 29. August 1914 von Luxemburg aus: „Ich bin froh, hier noch zu sein und nicht am Hofe. (In Koblenz) Ich werde ganz krank, wenn ich dort das Gerede höre, es ist herzzerreißend, wie ahnungslos der hohe Herr über den Ernst der Lage ist. Schon kommt eine gewisse Hurrastimmung auf, die mir bis in den Tod verhaßt ist.“
Am 9. September 1914: „Es geht schlecht. Die Kämpfe im Osten von Paris werden zu unsern Ungunsten ausfallen. .... Der so hoffnungsvoll begonnene Anfang des Krieges wird in das Gegenteil umschlagen. ..... Wir müssen ersticken in dem Kampf gegen Ost und West. ...... Und wir werden zu zahlen haben für alles, was zerstört ist!
Nach dem Rückschlag an der Marne mußte v. Moltke die 3., 4. und 5. Armee zurücknehmen. Er schreibt darüber: „Es war ein schwerer Entschluß, den ich fassen mußte, ohne die Genehmigung Sr. Majestät vorher einholen zu können. Der schwerste Entschluß meines Lebens, der mich mein Herzblut gekostet hat. Ich sah aber eine Katastrophe voraus, wenn ich das Heer nicht zurückgenommen hätte. In der Nacht um 3 Uhr kam ich wieder in Luxemburg im Großen Hauptquartier an.“
Ziemlich ausführlich äußert sich v. Moltke über einen Vortrag, den er dem Kaiser bereits im Jahre 1905 gehalten hatte. Er hatte bei diesem Anlaß dem obersten Kriegsherrn über den Bluff der Manöver und Kriegsspiele reinen Wein eingeschenkt und ihm vor den Kopf gesagt, daß alles von vornherein auf einen Sieg des Kaisers und eine Einkesselung des Feindes angelegt sei, derart, daß sich keine Offiziere mehr fänden, um die feindliche Armee zu führen, und alle überzeugt seien, der Kaiser wolle es so haben. Dieser unterbrach und beteuerte, er habe keine Ahnung davon gehabt, daß nicht auf beiden Seiten mit gleichen Waffen gekämpft worden sei, er sei ganz bona fide gewesen!
An anderer Stelle teilt v. Moltke mit, daß auch ein Durchmarsch durch Holland vorgesehen war, auf den er aber trotz seiner militärischen Vorteile verzichtete, weil sonst auch die Holländer die Waffen gegen Deutschland ergriffen hätten.
Die „Frankfurter Zeitung“ schließt aus diesen Memoiren: „Die Führung eines Feldzugs erfordert Charaktere, Männer mit starken Nerven, und zu diesen gehörte der mystisch veranlagte Moltke nicht.“
Diese Auszüge genügen, einen, wie gesagt, erschreckenden Einblick in das Vorkriegsdeutschland zu gestatten, das man das wilhelminische genannt hat, weil der unselige Träger dieses Namens ihm aktiv und passiv den Stempel seines Wesens aufgedrückt hatte.
Der ganze Glanz der Masestät, die das monarchische Deutschland allgemeinem Glauben nach überstrahlte, war eine lächerliche Fiktion, durch die die besten Geister am Recht und an der Wahrheit irre werden mußten. Die berüchtigte Kundgebung „Es ist nicht wahr“ ist aus jener wahnsinnigen Hypertrophie des Autoritätsglaubens geboren, der auf allen Stufen nach allerhöchstem Vorbild gezüchtet wurde.
Und Moltke, der in diesem ethischen Wust klar sah und ein Ende mit Schrecken fürchtete, wird heute als der Mann ohne Nerven abgetan.
Ja, die Nerven! Wir erinnern uns der Theorie, die damals im Krieg vertreten wurde. Jeder Neuropath betete es nach, daß beim Kriegführen die Nerven den Ausschlag geben. Und als es am Ende auch mit Hindenburg und Ludendorff schief ging, da wußten alle, daß auch sie in den Nerven zusammengebrochen waren. Die Nerven waren eine Mode-Angelegenheit, wie Bügelfalten in der Hose oder eine HabySchnurrbartbinde.
Und man scheint also auch noch heute in Deutschland - wenigstens in der Redaktion der „Frankfurter Zeitung“ - zu glauben, der Krieg wäre anders ausgegangen, wenn sie drüben nur Männer mit widerstandsfähigerer Nervensubstanz gehabt hätten?
Dem gegenüber gibt es in der Welt - und möglicherweise sogar in Deutschland - Idealisten des Rechts und der immanenten Gerechtigkeit, die eine Sache für innerlich verloren halten, wenn sie von vornherein gründet auf einer Verneinung und Verachtung der obersten Rechtsnormen, durch die Treu und Glauben zwischen Völkern bestimmt werden. Und die also überzeugt sind, daß es ein Unheil für die Menschheit bedeuten würde, wenn ein Krieg, der auf solcher Grundlage begonnen wird, lediglich durch die starken Nerven der Generalstäbler gewonnen werden könnte.