Immer, wenn ich an einer bestimmten Stelle des Stadtparks - am südlichen Ende des Prinzenrings - vorbeigehe, kann ich mich eines Gefühls unruhiger Besorgtheit nicht erwehren. Die Bäume, die den Straßenzug einsäumen, tragen seit einiger Zeit am Stamm - einer über den andern - eine Nummer, von 1 bis 36.
Diese Bäume sind gezeichnet. Zu welchem Zweck, ist mir unbekannt. Sie sind gezeichnet. Es haftet ihnen etwas Ominöses, Unheimliches an. Ihr wißt ja, was es im Volksmund heißt, daß jemand „gezeichnet“ ist. Jede körperliche Besonderheit, bis zur Haarfarbe, macht das Individuum zum Gezeichneten. Das bedeutet nicht nur, daß er durch das Zeichen selbst außerhalb der Norm gerückt ist, daß er sich als vom Schicksal verfolgt zu betrachten hat, es hat auch die Nebenbedeutung, daß sich seine Mitmenschen vor ihm in Acht zu nehmen haben, daß er jederzeit auf böse Streiche gegen sie sinnt, gleichsam um sich an ihnen für die Tücke zu rächen, mit der ihn das Schicksal verfolgt hat.
Die Bäume am Prinzenring stehen also als Gezeichnete in ihrer Brüder Mitte. Nicht daß sie Böses gegen sie im Schilde führten. Sie sind ja keine Menschen. Das Kainszeichen verheißt Böses nur für sie selbst. Ich vermute, sie sollen gefällt werden. Sie sind die Verurteilten, denen an einem frühen Morgen die Axt an den Stamm gelegt werden soll. Hoffentlich bald, solange das Saft aus ihnen erdwärts geflohen ist, damit sie nicht inmitten eines neuen Frühlingstraumes an den Tod glauben müssen.
Eigentlich ist es Mord, wenn man einen gesunden Baum fällt. Aber da wir für den Menschenmord schon seit langem die schönsten Entschuldigungen gefunden haben, wäre es wohl Empfindsamkeit am falschen Ende, wenn wir Bäume, die uns keine Dienste leisten und uns obendrein im Wege stehen, an Altersschwäche wollten sterben lassen.
Ich werde also den Männern nicht in den Arm fallen, die demnächst die Axt gegen diese Gezeichneten schwingen werden. Es gibt sogar noch andere Stellen, an denen diesem oder jenem Baum das Todesurteil zu sprechen wäre, weil er weder dem Landschaftsbild zum Vorteil gereicht noch als Schattenspender in Betracht kommt. Die Bäume am Prinzenring sind in diesem Fall. Sie säumen die schöne Unregelmäßigkeit des Baumbestandes im Park mit ihrer pedantischen Regelmäßigkeit nutzlos ein und die Anwohner werden ihren superfötatorischen Schatten gerne entbehren. Am Eicher Berg steht eine Reihe Linden, die den Ausblick ins Tal und auf die Höhen gegenüber versperren und von denen niemand Schatten verlangt, weil die Straße sowieso fast den ganzen Tag im Schatten der alten Festungswälle liegt. Dasselbe kann von einer Anzahl anderer Bäume an der Nordost-Peripherie der Oberstadt gesagt werden.
Nur einen alten, treuen Kastanienbaum möchte ich vor der Axt retten. Er steht dem Hause Risch gegenüber am Parkeingang und tut niemanden was zuleid. Trotzdem ist er mit der Nummer 36 gezeichnet. Mir ist, als hörte ich ihn flüstern: Nimm du mich in Schutz, denke daran, wie du manchmal bei plötzlichem Platzregen mit allerhand Mitmenschen unter meinem Laubdach Schutz gesucht hast, wie dir so behaglich zumut war, wenn es von oben in meine Blätter drusch und du trocknen Hutes darunter standest, während das Wasser Bächen gleich durch die Gossen strudelte. Sie boten dir vom Fenster herüber liebenswürdig einen Regenschirm, aber du winktest nein und bliebest lieber unter meinem Dach. Und du mußt selber sagen, ich bin einer der schönsten Kastanienbäume der Umgegend, in anmutigem Schwung und Rhythmus senken sich meine Äste, während die Nachbarn, die an der Straße entlang stehen, zu häßlichen, knorrigen Gebilden verschnitten sind. Die Linde und die Silberpappel neben mir sollen das Leben haben, und ich blühe doch viel schöner, als sie, meine Knospen sind die ersten, die zart und grün im Frühling sich entfalten, meine Blütenpracht hat die besten der jungen Maler zu herrlichen Bildern begeistert. Und ich möchte noch so gerne leben und blühen! Bitte bitte, lege ein Wort für mich ein!“
Ich tue es hiermit, denn der alte Kastanienbaum hat recht. Mögen sie die andern opfern, er hat nichts getan, womit er den Tod verdient hätte.