Fünf Buben trieben sich um das runde Wasserbecken im Brüsseler Stadtpark herum. Sie neckten sich, schlugen nach einander, spielten Rachlaufen, kurzum, trieben Unfug. Einer wollte seinem Widersacher einen Fußstoß an die Schienbeine versetzen. Dabei flog ihm sein Holzschuh davon und ein paar Meter weit in das Bassin hinein. Die Pantine legte sich trotz dieses regelwidrigen Stapellaufs wie eine richtige kleine Yacht auf den Wasserspiegel und schwamm langsam mit dem Wind dahin.
Von diesem Augenblick an hörte die Feindschaft unter den Buben auf. Das Unglück, das den einen getroffen hatte, weckte in ihnen eine Solidarität, die einer besseren Sache, als eines Holzschuhes, würdig gewesen wäre.
Der Kleine, der sich so unvermutet und unfreiwillig von der einen Hälfte seiner Fußbekleidung getrennt hatte, brauchte sich nur passtv zu verhalten, Seine Kameraden arbeiteten für ihn. Sie warfen Steinchen ins Wasser hinter den Holzschuh, um ihn durch den Wellenschlag heran ans Ufer zu treiben, sie schleuderten Schnüre, die sie zufällig in der Tasche trugen - Buben tragen immer zufällig Schnüre in der Tasche - nach dem Ausreißer, aber die Schnüre waren zu kurz und die Steinchen trafen meistens fehl.
Inzwischen hippte der Eigentümer - nicht Besitzer - des in See gegangenen Holzschuhes auf dem Absatz des unbekleideten Fußes herum. Die krampfhaft emporgereckten Zehen guckten aus einem Wollstrumpf, der an seinem vorderen Ende grade nur noch aus Löchern bestand, die mit Fäden an einander befestigt waren. Aber der kleine Mann hatte von seiner Seelenruhe nichts eingebüßt. Er trug sein Mißgeschick mit dem verbissenen Gleichmut, den sich das Proletarierkind angewöhnt. „Ich verachte dich, schöne Welt, an der ich kein Teil habe, bis ich dich einst erobere!“
Seine Kameraden hatten in derselben Schule des Lebens denselben passiven Trotz gelernt. Sie sprangen nicht schreiend und lachend und aufgeregt herum, wie es z. B. Bauernbüblein in diesem Fall getan hätten, sie betrieben ihre Rettungsarbeit mit nachlässiger Grandezza, damit ihnen nur ja niemand etwas wie Beflissenheit ansähe.
Plötzlich ging durch die Bande ein Ruck: Fluchtbereitschaft und Sichzurwehrsetzen. - Ein Parkwächter kam auf sie zu, ranzte sie an, sie gaben mit feindlichen Blicken und vorwurfsvollen Worten Bescheid, als sei das Wasserbecken der Feind und sie könnten nichts dafür. Der Wächter ging knurrend weiter, denn es war Essenszeit. Jetzt hatte der Kleine mit dem fehlenden Holzschuh einen neuen Feind gesichtet. Ein Gendarm war am Horizont aufgetaucht und kam auf die Gruppe zu. Nie werde ich Blick und Ton vergessen, mit denen jener Zehnjährige seine Kameraden vor dem nahenden Unheil warnte. «Godf. ... un gendarme!» sagte er. Er rief es nicht angstvoll, er sagte es ruhig, voller Verachtung und versteinertem Haß. Und keiner machte Miene, fortzulaufen. Sie trotzten achselzuckend dem Geschick. Aber das Geschick ging an ihnen vorüber, ohne von ihnen Notiz zu nehmen.
Der Wind hatte inzwischen den Holzschuh so weit herangetrieben, daß er mit der Rettungsschnur vollends an Land gezogen werden konnte. Der Fuß mit den neugierigen Zehen schlüpfte wieder hinein, und mit diesem Augenblick war die Solidarität ausgeschaltet.
Ein Freund, dem ich das kleine Erlebnis erzählte, frug mich, ob ich denn die berühmte Escher Geschichte vom Zusammenhalten gegen die Obrigkeit nicht kenne. Am Escher Friedensgericht hatte ein Bauer gegen seinen Feind und Prozeßgegner Unrecht bekommen. Er wandte sich mit einem Fluch zum Gehen und knurrte: „So ein Rindvieh von Richter lebt nicht mehr!“
Der Richter, der ihn nicht verstanden hatte, aber eine respektwidrige Äußerung vermutete, wandte sich zu dem näherstehenden Gegner: „Was hat er gesagt?“
Und dieser, in jenem Instinkt des Zusammenhaltenmüssens gegen den Mächtigeren, entgegnete:
„En huet gesot, e le’ß et net derbei!“