Original

23. Dezember 1922

Die Welt ist noch jung, denn sie hat noch Vieles zu lernen. Und sie wird erst zugrunde gehen, wenn sie ihr Summum von Weisheit erreicht hat, wie der Mensch erst im Vollbesitz menschlicher Erfahrung und menschlichen Wissens sterben soll, wenn alles mit rechten Dingen zugeht.

Wir wissen heute in Vielem Bescheid, was unsern Großvätern noch ein Buch mit sieben Siegeln war. Aber je weiter wir ins Dickicht der Erkenntnis vordringen, desto weiter breitet sich vor uns der Urwald des Unerforschten.

Eben las ich in den «Second thaughts of an idle fellow» von Jerome K. Jerome den Satz: «Our joke is generally another’s pain.» Was man auf unser Platt übersetzen kann: „Dem engen seng Eil, dem aneren seng Nuechtegailchen.“

Und der beliebte englische Humorist erzählt als Beleg dazu folgende Geschichte: „Ich erinnere mich, einmal einem erheiternden Anftritt zugesehen zu haben; es war in der Whitefield Street, abseits Tottenham Court Road, an einem Wintersamstag Abend. Eine Frau - sie sah eher anständig aus, hätte ihr Hut nur grade gesessen - war grade aus einem Wirtshaus hexausgeschmissen worden. Sie war sehr würdevoll und sehr betrunken. Ein Polizist forderte sie auf, weiterzugehen. Sie nannte ihn „Junge“ und wollte von ihm wissen, ob er die Auffassung habe, daß das der richtige Ton sei, um mit einer Lady zu verkehren. Und sie drohte, ihn bei ihrem Vetter, dem Lord-Kanzler, zu verklagen.

„Jawohl, dies ist der Weg zum Lord-Kanzler,“ sagte der Polizist. „Kommen Sie mit!“ und er faßte sie am Arm. Sie tat einen Ruck und wäre aufs Haar hingefallen. Um dies zu verhüten, legte der Mann ihr den Arm um die Taille. Dafür faßte sie ihn um den Hals und die Beiden schwangen sich ein paarmal im Kreise. Im selben Augenblick hub an der andern Straßenecke ein Drehklavier einen Walzer an.

«Engagez vos dames!» rief ein Junge, und die Menge brüllte vor Lachen:

Ich lachte auch, denn der Anblick war unleugbar komisch. Den Ausdruck von Abscheu im Gesicht des Konstablers hätten Sie sehen müssen. Plötzlich sah ich ein Kinderantlitz im Licht der Gaslaterne und stutzte. Die Kleine blickte so entsetzt, daß ich sie zu beruhigen suchte.

„Es ist bloß eine betrunkene Frau,“ sagte ich. „Er tut ihr nichts!“

„Bitte,“ war die Antwort, „es ist meine Mutter.“

Jeder von uns hat Ähnliches erlebt. Ich fuhr eines Tages mit meinem Freund Schorsch auf dem Rad nach Rollingergrund. Schorsch war kein François Faber Er hielt sich mit Mühe im Sattel. Hinter Wintersdorff, wo die Straße abschüssiger wird, gingen die Pedale rascher herum, als es in seiner Absicht lag, und er geriet in Verwirrung. Die Folge war, daß er das Gleichgewicht verlor und mit ausgebreiteten Armen auf die Chaussee flog. Ich mußte so lachen, daß ich selber beinahe aus dem Sattel geflogen wäre. Und als ich dem armen Schorsch auf die Beine half und er sehr sachlich feststellte: „Das Radfahren ist schwerer, als mancher meint,“ da mußte ich mich vor Lachen an einem Baum festhalten.

Sie merken immer noch nicht, was diese beiden tragikomischen Geschichten mit obiger Einleitung zu tun haben.

Der Zusammenhang ist doch sonnenklar.

In der materiellen Ordnung der Dinge hat die Natur überall für vollkommenen Ausgleich und für vollkommenes Gleichgewicht gesorgt. Wo kalt und warm, licht und dunkel, naß und trocken miteinander in Berührung kommen, tritt sofort der Ausgleich, die gegenseitige Durchdringung ein. Die Natur zieht den Durchschnitt.

Wir bilden uns etwas darauf ein, daß wir ein paar von den ewigen Gesetzen entdeckt haben, nach denen dergestalt die Dinge im Verhältnis zu einander sich verhalten müssen. Und wir dünken uns mit unserer sogenannten Seele erhaben über die Unfreiheit der leblosen Schöpfung, die unerbittlichen Gesetzen untertan ist, während wir beseelte Kreaturen unserm freien Willen gehorchen. Ist denn dies jetzt kein psychologisches Naturgesetz, daß uns das Mißgeschick anderer in schallende Heiterkeit versetzt? Ist da von der Natur nicht auch ein Ausgleich, ein Gleichgewicht beabsichtigt, und wirtschaftet sie im Reich des Geistigen nicht ebenso mit scharfkantigen Gesetzen und abgemessenen Stoffmengen, wie bei der Materie?

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