Original

29. Dezember 1922

Den Prinzenring herunter haben dieser Tage Holzhacker das Todesurteil an den gezeichneten Linien vollzogen. Und den Straßenzug entlang liegen die zersägten Baumleichen mit ihren weißen, duftenden Wunden. Abends spät hatte die Nummer 35 dran glauben müssen. Der Nächste an der Axt war mein Kastanienbaum, Nr. 36. Ich frug einen der Arbeiter, wann am nächsten Morgen die Hinrichtung stattfinden sollte. Ich wollte dabei sein. Und da erlebte ich denn die große Freude, daß mir der Mann sagte, der Kastanienbaum werde stehen bleiben.

Natürlich bilde ich mir ein, es sei auf meine Fürbitte geschehen. Ich weiß jetzt nicht, wem ich dafür danken soll. Mein Dank geht an die zuständige Stelle, und er ist umso wärmer, als dies meines Wissens das erste Mal ist, wo eine zuständige Stelle auf eine Anregung der Presse eingegangen ist. Sonst genügt es bekanntlich, daß etwas in einer Zeitung verlangt wird, damit es nicht geschieht.

Es ist ein erhebendes Gefühl, einem das Leben gerettet zu haben. Es braucht nicht grade ein Mensch zu sein. Ja, es kommt vor, daß die Freude, einem Menschen das Leben gerettet zu haben, später eine böse Trübung erfährt. Dieser Mensch kann sich später des schnödesten Undanks schuldig machen, er kann zum Verbrecher werden, nicht davon zu reden, daß er vielleicht schlechte Gedichte macht und sie drucken läßt.

Die zuständige Stelle hat mit der Begnadigung jenes Kastanienbaumes ganz sicher nicht nur mir, sondern allen, die ihn schon in seiner Blüte Pracht bewundert haben, eine große Freude bereitet. Er steht mit einer Linde, die auch außer der Reihe aufgewachsen ist, am Parkeingang Wache. Man sollte jetzt ein Schild daran anbringen: „Dieser Baum wurde im Jahre des Unheils 1922 unschuldig zum Tode verurteilt, aber begnadigt.“ - Und ich bin sicher, über hundert Jahre werden unsere Urenkel mit Freuden noch das Schild lesen, wenn sie dort vorbeigehen oder wenn ein Platzregen sie in den Schutz und Schirm des alten Herrn gescheucht hat.

Er ist wirklich einer der stattlichsten Kastanienbäume des ganzen Stadtgebietes. Er ist aus derselben Familie, wie die schönen alten Exemplare am Paradeplatz und in der Allee Scheffer, die gegen den späteren Ersatz wirken, wie ein Marquis des alten Regime gegen einen rasselosen Verreckling. Seht Euch seine Brüder oder Vettern an, die die MariaTheresien-Avenue einsäumen. Sie sind ein abschreckendes Produkt moderner Baumkultur. Alljährlich sind mehrere wackere Männer mit Beilen und Scheren bemüht, sie in eine anständige Form zu bringen. Und das Ergebnis ist, daß sie aussehen, wie Mißgeburten. Ihre Kronen sind unästhetisch verworren, ungekämmt, wie Struwelpeterköpfe, in der Bewegung ihrer Äste ist weder Rhythmus noch Harmonie, an ihren Stämmen sitzen dicke Knollen, die an Unterleibsbrüche erinnern, jeder einzelne ist ein armer Märtyrer menschlichen Besserwissens und bürokratischen Verschönerungskollers.

Dagegen mein Kastanienbaum! Seit ich ihn kenne, hat weder Axt noch Beil in seinem Wipfel gewütet, er entfaltet nach eingeborenen Gesetzen im Steigen und Fallen seiner Äste und Zweige die Schönheit seiner Art und Rasse. In ziemlicher Höhe teilt sich sein Stamm in drei starke Äste, die den weiten Schirm der Krone hoch hinauf tragen, wie es der klassische Stil des Alleebaums will. Die alten Gärtner, die die Kastanienbäume des Paradeplatzes und der Allee Schefser gepflanzt und gepflegt haben, wußten darin Bescheid. Auch die herrliche Eschen-Allee im Stadtpark, von der Villa Max Metz bis zur Bellevue gehört in diesem Sinn zu den schönsten des Landes. Dagegen verraten sich die Baumreihen an der Maria-Theresien- und Monterey-Avenue- z. B. als verständnislose Stümperarbeit. Der Fehler liegt entweder in der Wahl der Baum-Abart, oder in der barbarischen Verschneidung. Die Kronen gehen nicht hoch, sondern verwursteln sich in wirrem, unmalerischem Durcheinander. Von einem Ansatz der Hauptäste, die nach oben strebend das ganze Laubdach gewölbeartig tragen sollen, keine Spur. Denken Sie sich statt dieser verkrüppelten, verwachsenen, schwunglesen Geschöpfe eine Reihe von Bäumen in der Art des geretteten Kastanienbaums, verständnisvoll aufgeästet bis zum Wipfel - welch herrliche Alleen besäße die Stadt heute, statt einer Sammlung von häßlichen, unproportionierten, zu Schanden verschönerten Baum-Märtyrern!

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KatalognummerBW-AK-010-2301