Original

31. Dezember 1922

„E glecklecht Neitjährchen, lang ze liewen a se’leg ze stierwen!“

Das ist der alte luxemburger Neujahrsgruß. Das Neujahr ist offenbar nur aus Gründen der Symmetrie und Alliteration zum Diminutiv geworden.

Also das größte Glück, das wir einander wünschen können, ist lang zu leben und selig zu sterben.

Darüber läßt sich nachdenken.

Der Wunsch sagt nichts davon, wie man leben soll. Er sagt nichts von glücklich, selig, zufrieden leben, er sagt nur: lang.

Also das Leben wird an und für sich als das Höchste geschätzt. Es ist das goldne Gefäß, in das jeder sich sein Glück hinein zu füllen berufen ist. Solange dies Gefäß nicht zerschlagen ist, hört die Möglichkeit des Glücks nicht auf. Die süße Gewohnheit des Daseins ist die Hauptsache für den schlichten Neujahrswünscher. Langes Leben: Jeder muß wissen, was er damit anfangen will.

Aber einen Haken muß es doch mit dem langen Leben haben. Man müßte doch meinen, wenn es um das lange Leben so etwas Köstliches ist, so wäre die Köstlichkeit umso größer, je länger das Leben ist, und am allergrößten, wenn es ewig dauerte. Aber darauf hat sich noch niemand einlassen wollen. Im Gegenteil, der unglücklichste Mensch, den die Volksphantasie ersonnen hat, ist Ahasver der Ewige. Für die größte Missetat hat naiver Glaube die schlimmste Strafe ausgeheckt: das ewige Leben!

Irgendwer hat einmal gesagt - oder könnte einmal gesagt haben, die schönste Zuversicht des Menschen ist die, daß er, wenn es ihm hienieden zu bunt wird, sich auf englisch zur Tür hinaus drücken kann. Diesen Trost müßte er entbehren, wenn er zu ewigem Leben verurteilt wäre.

Darum denken wir uns als Schluß des langen Lebens ein seliges Sterben. Aber darüber gehen die Meinungen stark auseinander.

In einem alten Soldatenlied heißt es: „Kein schönrer Tod ist in der Welt - Als wer vorm Feind erschlagen. ...“

Dagegen hat der grimmige Kasernenhumor das nüchterne Wort erfunden: „Wenn nur der verfluchte Heldentod nicht wäre.“

Im allgemeinen kann man sagen, daß man über sein eigenes Sterben meist anders denkt, als die andern. Wenn z. B. ein alter Herr im Park, so um den Monat Mai herum, wenn die Vöglein singen und die weißen Wolken durchs Blau fahren - wenn da der alte Herr im Grünen draußen vom Schlag gerührt wird und mausetot auf der Bank sitzt, so sagt jedermann: Welch ein Glück für den alten Herrn, und welch ein schöner Tod! Ich bin sicher, wenn man den alten Herrn gefragt hätte, so wäre er lieber ohne Grün und Vogelsang und weiße Wolken mitten im Winter in seinem Bett gestorben, wenn er dafür noch ein paar Jährchen länger hätte leben dürfen.

Nach allgemeinem Sprachgebrauch denkt man sich wohl den seligen Tod ungefähr im Stile Jung Stillings: Der alte Herr, so um die 97 herum, im Kreise der Seinen, die alle in geachteten Lebensstellungen sind - die Gattin hat hochbetagt vorm Jahr das Zeitliche gesegnet, - der ehrwürdige Greis hatte bis zum letzten Tag vorzüglichen Appetit, nur mit den Beinen wollte es nicht mehr recht, und er war die letzte Zeit auch wirklich arg kindisch geworden. Und so schlummert er hinüber, schmerz- und gedankenlos, sein Sterben ist keine Qual und Mühsal und sein Tod ist für niemanden ein Verlust.

Solches Sterben ist den Heutigen versagt. Der Greis, der heute stirbt, geht dahin in der Trauer um die Ideale seiner Jugend, die heute unter die Räder gekommen sind. Und die Jungen, die heute sterben, schließen die Augen ohne die beseligende Zuversicht, daß ihre Ideale siegen werden. Es ist eine schlechte Zeit für Ideale, junge und alte. Paul Eyschen, um nur einen zu nennen, ist bei uns den Tod gestorben, auf den heute die meisten Anwartschaft haben. Ein langes Leben voll Aufopferung, ein Tod umdüstert von Undank und Katastrophen.

Das selige Sterben ist uns nicht mehr gegönnt, vielleicht, weil wir dem Tod seinen Stachel nicht zu nehmen verstehen.

Es gab einst eine Welt, in der auch die Jungen selig zu sterben wußten. Als sie nicht Romeo und Julia, sondern Petronius und Lydia hießen. ......

E glecklecht Neitjährchen, lang ze liewen a se’leg ze stierwen!

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  • language: new year's greetings
KatalognummerBW-AK-010-2303