Original

4. Januar 1923

Auf dem Apollotempel in Delphi steht der alte weise Spruch: Erkenne Dich selbst!

Nun glaubst Du, den Spruch befolgt zu haben und dich selber zu kennen. Und zwar bist Du überzeugt, daß Du von allen Menschen auf Erden derjenige bist, der Dich am besten kennt. Alle Vorbedingungen sind dazu freilich gegeben. Du pflegst seit Deinen Kindstagen den engsten Verkehr mit Dir selber, Du stehst dir am allernächsten, Du konntest Dir nichts vor dir selbst verheimlichen, Deine geheimsten Gedanken, Wünsche, Hoffnungen und Strebungen sind Dir vertraut, Du kennst Deine Fehler und Vorzüge, Deine Tugenden und Laster, Du weißt, was du seelisch und körperlich vertragen und nicht vertragen kannst, ob dir der schwarze Kaffee und die Liebe bekömmlich sind oder nicht, kurzum, Du kennst Dich, wie Deine sche, und Du bist überzeugt, niemand kennt Dich besser.

Dem sollte allerdings so sein. Aber Du täuschst Dich. du hast keine Ahnung, wieviel Leute Dich besser kennen, als Du Dich selbst. Du solltest Dich baß wundern, wenn Du die Damen beim Kaffeeklatsch über die Herren beim Bier Dein Bild entwerfen @rtest. Ich will damit beileibe nicht sagen, daß Dich sie schlechter machen, als Du bist. Manchmal hättest Du allen Grund, zu erröten, wenn Du hörtest, wie Du Dir Vorzüge und Tugenden andichten, die Du nie gehabt hast. Du kannst der größte Geizhals sein, die schildern Dich als freigebigen Wohltäter - oder der übelste Verschwender, Du wirst in ihrem Munde zum Finanzgenie. Du siehst, ich rede nur von zusagen neutralen sittlichen Werten. Wie schwelgen wir erst, wenn es sich um gute oder schlechte Eigensaften mit mehr subjektiver Tragweite handelt! Um Dein Verhältnis zu den Frauen, zum Beispiel. Am tollsten wird es, wenn zwei aneinander beraten, die Dich jeder am besten kennen wollen und jeder das Gegenteil vom andern behaupten. Was, Du wärest ein guter Kerl! Ein Filou, ein faux bonhomme, ein Neidkragen, ein Heimtücker. Oder umgekehrt: Du wärst Dein Gewicht in Gold wert, Du hättest niemanden je was zuleide getan, Du wärest der edelste Mensch, den die Sonne bescheint, und dabei gescheit für sieben.

Das sind nun gewöhnlich Leute aus Deinem Bekanntenkreis. Das heißt, sie könnten Dich sozusagen kennen, sie wissen, wo und wann Du Deinen Stammtisch hast, was Du über die Frage der Dardanellen, über Strindberg und über die einzelnen Kuddelflecksauren denkst, ob Du mit Deiner Familie im Frieden oder im Hader lebst, sowie auch wieviel Du Kragen- und Taillenweite hast. Daß die sich anmaßen, von Dir ein einigermaßen glaubwürdiges Bild zu entwerfen, läßt sich schließlich begreifen.

Aber es gibt auch die, die Dich nur vom Hörensagen kennen. Hörensagen ist eine der ergiebigsten Quellen der Menschenkenntnis. Diese Menschenkenner aus zweiter, dritter und vierter Hand sind in ihrem Urteil gewöhnlich am apodiktischsten. Für sie bist Du der Tugendbold oder Bösewicht schlechthin. Rüancen kennen sie nicht. Der? Den kenn’ ich genau! Der hat sein ganzes Vermögen gestohlen! Der hat seine Frau ins Grab gebracht. Oder die! Die betrügt ihren Mann, die ist die Mätresse des Herrn Soundso, die färbt sich die Haare, die stopft sich aus!

Dann geschieht es zuweilen, daß Du mit einem dieser Menschenkenner irgendwo zusammentriffst. Ihr werdet miteinander bekanntgemacht, und er sagt: „Genau so hatte ich Sie mir vorgestellt!“ oder umgekehrt: „Sie hatte ich mir aber ganz anders vorgestellt“

Verlaß Dich drauf, der zweite ist immer der, der sich das richtigere Bild von Dir gemacht hatte.

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