Original

11. Januar 1923

Das Geißknäppchen bei Merl ist zweifellos dazu bestimmt, ein historischer Punkt zu werden.

In jüngster Zeit ist es als Aufstellungsort für die Kanonen ausersehen, die der Bevölkerung jeweilig die Geburt eines Fürstenkindes durch kriegerisches Gedonner anzeigen sollen.

Ich erinnerte mich, daß es bei Ausbruch des Krieges plötzlich in den Ruf einer strategisch wichtigen Position gekommen war, Wir andre hatten ja davon keine Ahnung, aber die deutschen Offiziere sprachen von dem Geißknäppchen ungefähr so, wie später vom Chemin des Dames, vom Toten Mann oben von der Höhe 304.

Ich erinnerte mich an dem Morgen, an dem die Kanonen einundzwanzig Mal für die kleine Prinzessin Elisabeth das Echo der Höhen von Dippach und Lendelingen weckten, daß das Geißknäppchen schon ein paarmal wie eine blutige Vision durch meine Vorstellung gegangen war, und ich ging der Erinnerung nach. Die erste war vom 2. August 1914.

„Abends kam ein Gewitter, daß der ganze Himmel im Süden und Westen flammte, und als es sich verzogen hatte, sah das Firmament aus, wie ein Schlachtfeld. Graue, formlose Wolken lagen wie Haufen, von Leichen, und dahinter waren Streifen, die sich wie Blutbäche von Horizont zu Horizont zogen. Ein Biwakfeuer, das von dem Regen lustig auf dem Geißknäppchen (damals sagte man auch Goldknäppchen) bei Merl geflammt hatte war erloschen, und in die Katastrophe des zerrissenen Abendhimmels stach der Auerbrenner einer Straßenlaterne mit seinem fahlgrünen, nüchternen Licht.

Das war Sonntags, 2. August 1914. Sie sehen das einzige Kriegerische am Geißknäppchen wie Biwakfeuer.

Montags sah es schon anders aus. Ich fi meinem Tagebuch unterm 3. August abends so die Aufzeichnung:

„Montags in der Kammer. Eyschen sichtlich physisch herunter, aber auf dem Damm, wo es gilt, äussere Rechte zu wahren, wenigstens in der Theorie. In der Praxis hatten wir zu parieren und M. zu halten. Polizeikommissar Ettinger und Bürgermeister Daubenfeld von Hollerich waren in der Kammer und erzählten, vom Schlachthof bis zum Geißknnäppchen seien Schanzgräben aufgeworfen und Kanonenhügel gegraben, Offiziere hätten ihnen gesagt, für Menschen die Häuser, die in der Feuerlinie liegen, werde die Sache brenzlich, wenn es zu einem Artilleriefeuer komme. Im Hause Lakaff an der Windmühl durch Matratzen und Sandsäcke verbarrikadiert habe sich der Stab des kommandierenden Generals festgesetzt, man erwarte für nächsten Morgen ein Treffen.“

So stellt sich dieses harmlose Geißknäppchen während als das obligatorische Sprungbrett die erste Schlacht bei Luxemburg dar. Wir erinnern uns noch alle der Schützengräben und Drahtverhaue, denen in den nächsten Tagen nach dem dem Einbruch die herrlichen Rosenfelder des Herrn Charles Gemen am Geißknäppchen verwüstet - ein ergreifendes Symbol des ganzen Kreigsgreuels.

Kein Wunder, daß das Geißknäppchen bei heute mit einer Art apokalyptischer Unheimlichkeit der Landschaft steht. Es hebt sich aus der Talsenkung wie eine Klage, wie ein Protest, und trotz seinem Diminutiv hat es eine seltsame Tendenz ins Riesenhafte.

Über seinen Rücken führt ein Weg. Und wenn in der Dämmerung ein Mann langsam über den Weg schreitet, so scheint seine Silhouette märchenhafter Größe. Hat er gar ein Gespann bei sich, so wird daraus ein richtiger Spuk, eine Erscheinung wie dem Land der Riesen, von denen Gulliver schreibt. Und oben auf dem Geißknäppchen steht ein Haus, bescheidenes Häuschen, ein Würfel von knapp ein paar Meter im Geviert. Von der Stadt her gesehen, ist es eine Villa, ein Tempel auf dem Berg, eine Akropolis.

Truppen marschieren irgendwo, da zieht das Geißknäppchen, der strategische Punkt, die Gedanken wieder an. Wäre doch das andere Geißknäppchen, um das sich dunkle Wolken zusammenziehen, auch solch harmloses Hügelchen, das alles ins Übertriebene verzerrt und im Grunde weiter nichts ist, als eine Fläche mit Kartoffel- und Weizenäckern und einem Kalkofen darauf.

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KatalognummerBW-AK-011-2311