Original

27. Januar 1923

Die Findigkeit der Post ist ein gern behandeltes Kapitel. Unsere Briefträger machen die Adressaten von Briefen ausfindig, auf denen überhaupt keine Adresse steht, es genügt ein Bild oder sogar nur eine Karikatur mit dem Zusatz Luxemburg. Solche Briefe sind schon aus Amerika herüber prompt und sicher an ihre Bestimmung gelangt. Mir wurde dieser Tage ein Kuvert gezeigt, das von London abgestempelt und an eine Person „bei Herrn X. Y., Philippstraße“ adressiert war. Die Ortsbezeichnung fehlte. Trotzdem machte die Londoner Post ausfindig, um welche Stadt mit einer Philippstraße es sich handelte.

Das sind Beispiele von der Findigkeit der Post. Es gibt aber auch etwas, das man die Unfindigkeit der Post nennen könnte. Wenn ich zum Beispiel ein dringendes Telegramm an Herrn Grimberger Hotel zum Ochsen, Feldafing, Bayern, aufgebe und es kommt zurück mit dem Vermerk: Hier sind zwei Ochsen, welcher von beiden? - so stehe ich vor einem Rätsel. In meinem Laienverstand richtet sich die Frage auf: Warum hat der Telegraphenbote von Feldafing nicht erst bei dem einen Ochsen angefragt und das Telegramm zu dem zweiten getragen, wenn es bei dem ersten nicht stimmte?

Aber die Post scheint sich mit müßigen Fragen aus Prinzip nicht abgeben zu wollen. Ich schließe das aus folgendem Fall, den man schon ein Kuriosum nennen könnte.

Jemand schreibt an Herrn Ixygrec, Ingenieur, früheren Generaldirektor, Montereystraße, Luxemburg.

Das von Herrn Ixygrec bewohnte Haus liegt tatsächlich an der Montereystraße, aber auch an der Philippstraße, da es die Ecke beider Straßen bildet. Hätte der Briefträger versucht, den Brief in der Montereystraße abzugeben, so hätte er die Tatsache festgestellt, daß das Haus dort keine Türe hatte. Als intelligenter Briefträger hätte er sich gesagt, daß die Türe alsdannn sich wahrscheinlich an der Philippstraße befinden würde und hätte den Brief dort abgeliefert.

Das tat dieser Briefträger nicht. Es war vermutlich an einem Samstag oder Montag, wo infolge der Sonntagsruhe die Briefträger in grotesker Weise überladen sind. Und der Mann wird sich mit Recht gesagt haben: „Was soll ich mich von irgend einem dummen Briefschreiber um die Ecke schicken lassen! Wenn er will, daß ich seinen Brief Montereystraße abgebe, soll er Montereystraße eine Türe brechen lassen!“

Und er trug den Brief nach dem Postamt zurück, wo zwei Stempel darauf gedrückt wurden. Einer: „Zurück!“ Der andere: „Unbekannt in Luxemburg.“

Daß jemand einen der bekanntesten Namen von Luxemburg tragen, dazu Ingenieur und Generaldirektor a. D. sein kann und trotzdem von der Post als „unbekannt in Luxemburg“ qualifiziert wird, das ist eine Leistung.

Nun gibt es auch noch etwas wie ein Briefgeheimnis, auf dessen Verletzung die schwersten Strafen stehen. Die Post indes hat Mittel und Wege gefunden, von dem Inhalt einer Postsendung Kenntnis zu nehmen, ohne das Briefgeheimnis zu verletzen.

Jener Brief an den Ingenieur und früheren Generaldirektor, den jedes Kind in Luxemburg kennt, nur die Post nicht, blieb ordnungsgemäß vierzehn Tage liegen und wurde dann ebenso ordnungsgemäß amtlich geöffnet und nach Ermittlung des Absenders diesem wieder zugestellt.

Nehmen wir an, jemand gibt einen Brief zur Post mit der Aufschrift: „Herrn Wilhelm Soissons, Professor, früheren Generaldirektor, Luxemburg, Freiheitsavenue.“ Jemand bei der Post möchte wissen, was der Brief enthält. Er bewirkt, daß der Brief zurückgeht, weil der Adressat in Luxemburg unbekannt sei, indem er nicht an der Freiheitsavenue, sondern dicht daneben wohnt. Nach vierzehn Tagen wird der Brief geöffnet und die Neugier des Betreffenden ist gestillt.

Ich konstruiere den Fall willkürlich und ohne die mindeste Absicht, jemand zu verdächtigen, nur weil er ganz genau so liegt, wie der andere, der der Wirklichkeit entnommen ist. Daß eine Verletzung des Briefgeheimnisses beabsichtigt gewesen sei, ist selbstverständlich ausgeschlossen. Es handelt sich einfach um ein frappantes Gegenstück zu der vielgepriesenen Findigkeit der Post, das als solches seine Festnagelung verdient.

Am Rand sei bemerkt, daß an sehr vielen Häusern der Stadt die Nummern fehlen und es für die Briefträger oft äußerst schwierig ist, einen Unbekannten bloß nach einer Hausnummer ausfindig zu machen. Aber das Merkwürdige ist, daß sie den immer finden.

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    Katalognummer BW-AK-011-2324