Selten hat mich etwas so mit Wehmut erfüllt, wie der Satz von Talleyrand: «Il n’a pas connu la douceur de vivre, celui qui n’a pas vécu en France avant 1789.»
Der Mensch ist ja so, daß er die Süße des Daseins über alles schätzt. Wenn Ihnen nun jemand sagt, daß es einmal eine Zeit und ein Land gab, wo es sich über alles süß leben ließ, daß aber diese Zeit unwiederbringlich dahin ist, so fühlen Sie sich wie bestohlen. Und Sie beginnen, gegen einander abzuwägen, was 1789 uns auf immer entführt und was es uns gebracht hat.
Und da mag es vorkommen, daß Ihnen die „Errungenschaften der großen Revolution“ ab und zu in einem andern Licht, als bisher, erscheinen und daß Sie sich über das Wesen der Politik gar seltsame Gedanken machen.
So als fertiges Ganze betrachtet sieht sich das Werk der Revolution nicht übel an. Aber in den Einzelheiten ist Manches, was dem Ganzen nicht zum Schmuck gereicht. Dies bezieht sich nicht einmal auf die Schreckensherrschaft und ihre Greuel, über die das Urteil der Geschichte fest liegt. Ich meine es so, daß in der Vorbereitung der Revolution, in der Stimmungsmache, in der Bearbeitung der Symptome Vieles an die falsche Adresse ging. Typisch dafür ist die Geschichte vom Halsband der Königin. Ein in Wohlleben verbummelter Kardinal, der sich von einer adligen Betrügerin die unglaublichsten Bären aufbinden läßt, lebt schließlich in dem Wahn, die Königin lasse sich von ihm das Geld für den Ankauf eines Brillant-Halsbandes heimlich vorstrecken, während seine Vorschüsse die Taschen der Betrügerin füllen. Und beim Prozeß nimmt die öffentliche Meinung Partei für den Kardinal gegen die Königin. Je entrüsteter sich diese dagegen verwahrt, daß sie die Hände in einer so unsaubern Geschichte gehabt hätte, desto gieriger verschlingt der Gran Galeotto alles, was Verleumderisches über sie erzählt wird, und einer der typischen Vertreter jener leichtfertigen Wollüstlingspsyche, an der das alte Regime zugrunde gegangen sein soll, wird gegen Marie Antoinette auf den Schild gehoben!
Wer wird bestreiten wollen, daß eine Figur, wie Charlotte Corday, mehr Sympathie verdient, als der Monoman Marat, dessen Typ bei allen Geschichtskonvulsionen in den Vordergrund gerät und nur interessant ist durch den Schrecken, den er vorübergehend um sich verbreitet?
Man könnte eine ganze Reihe von Verhältnissen, Erscheinungen und Persönlichkeiten aufführen, an denen sich die Wahrheit der Talleyrand’schen Worte nachweisen ließe: daß es überaus süß zu leben war in dem vorrevolutionären Frankreich, und die, gegen manche Verhältnisse, Menschen und Erscheinungen des neuen Regime gehalten, diese weit überragen.
Indes, wieviele durften vor 1789 in Frankreich das süße Leben genießen, und wieviel andere mühten sich in den Niederungen des Daseins, wo das Leben aus Bitterkeit besteht?
Wenn man an diese denkt, verliert das Wort Talleyrands seinen Glanz und seine schöne Wehmut, und man findet es selbstverständlich, daß sich diese andern schließlich auch zum Mitgenießen meldeten und immer wieder melden. Man sollte nur endlich die Heuchelei aufgeben, die darin liegt, daß verkündet wird, jetzt soll die verfaulte und verrottete alte Welt zerschlagen und eine neue an ihrer Stelle errichtet werden, wo doch die ganze Gier der Masse, die nach oben drängt. darauf zielt, es auch einmal so gut zu haben, wie jene, die ihr als verrottet und verfault geschildert und verächtlich gemacht werden. Der arme Teufel, der die Nase an die Scheibe eines Luxus-Restaurants druckt und einen Gent drin Leckerbissen verzehren sieht, wird seine Haut nicht dafür einsetzen, daß er und der Herr da drinnen sich zusammensetzen und Haferbrei essen dürfen, trotzdem Haferbrei gesünder ist, als Kaviar und Schnepfendreck, sondern der Mann draußen will es so gut haben, wie der da drinnen, und müßte dieser dabei verhungern.
Es sind ihrer immer mehr, die an der douceur de vivre teilhaben wollen, und je weniger die sind, die genießen, desto mehr stehen abseits, die auch genießen wollen. Das ist recht. Aber man soll für die Genießergier nicht hochtrabende Worte setzen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, oder Wahrheit und Recht, oder andere dergleichen Heuchlerklischees.