Eine Freundin von mir hat zwei allerliebste Kinder, einen Jungen von acht und ein Mädchen von zehn Jahren.
Kürzlich sprachen wir von dem Charakter der Kinder im Allgemeinen und dem dieser beiden im Besondern, und die Freundin sagte bekümmert: „Ich fürchte, mein Junge gewöhnt sich das Lügen an.“
Woraus sie solches schließe, frug ich sie.
Da erzählte sie mir folgende Geschichte:
„Ich hatte gehört, daß Hans manchmal ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft an den Zöpfen riß. Die Kleine weinte und lief davon, wenn sie ihn nur von weitem kommen sah. Ich sagte ihm, er dürfe es nicht wieder tun, es sei grausam, ungezogen, ungalant und feige, und jedesmal, wenn er die Kleine an den Zöpfen reiße, spüre ich selbst den Schmerz. Er versprach mir hoch und heilig, es nicht wieder zu tun. Tags darauf stellte ich ihn zur Rede, ob er sein Wort gehalten habe. Er wurde rot bis hinter die Ohren und sagte ja. Meine kleine Hertha, die daneben stand, strafte ihn sofort Lügen. Sie hatte ihn gesehen, wie er der Kleinen nachgelaufen war, er hatte sie derart heftig an den Zöpfen gezogen, daß sie blutete und beinahe hingefallen wäre. Hans wußte darauf nichts anderes, als daß er mit dem Fuß nach seinem Schwesterchen stieß und zu heulen anfing. Es hat mich von dem Jungen bitter gekränkt, daß er sich so das Lügen angewöhnt.“
Ich antwortete ihr:
„Der Hans hat freilich gelogen, aber ich habe das Empfinden, daß die Hertha noch viel schlimmer gelogen hat.“
„Wieso?“
„Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß sie ihre Schilderung des Hergangs glatt erfunden oder doch die Einzelheiten sehr stark übertrieben hat.“
„Warum hätte sie das getan?“
„Ja, da geraten wir auf ein höchst interessantes Gebiet. Wir müssen etwas weiter ausholen.
Sie wissen doch, daß es eine positive und eine negative Lüge gibt. Die eine erfindet, die andere leugnet ab. Eine negative Lüge kann unter Umständen relativ edeln Gefühlen entspringen und ein gutes Werk sein, ist es wirklich in vielen Fällen.
Ihr Hans zum Beispiel hat rein áus Sohnesliebe gelogen. Er hatte Ihnen versprochen, die kleine Nachbarin in Ruhe zu lassen. Er dachte in seiner kindlichen Einfalt, wenn Sie von seinem Ungehorsam nichts erfahren, so wird Ihnen ein Schmerz erspart. Er log also, um Ihnen keinen Kummer zu bereiten.“
„Das sagen Sie aus purer Männersolidarität.“
„Ach nein, ich bin fest überzeugt, daß ich Ihren Hans hier ganz richtig einschätze. In ihm schlummert schon die Männerpsyche. Angenommen, er wird später einmal seiner Frau gelegentlich untreu ...“
„Was fällt Ihnen ein! Mein Hans!“
„Ich sagte: gelegentlich. Er erliegt einer Augenblicksversuchung. Er wird darum seine Frau nicht minder lieben, vielleicht sogar umgekehrt.“
„Das sind ja nette Theorien, die Sie da entwickeln.“
„Ich sprach rein hypothetisch. Angenommen nun, seine Frau ahnt die Wahrheit: So wird er sie trotzdem belügen. Nicht, um einer Strafe zu entgehen, sondern um ihr das Herzeleid zu ersparen. Er wird zum Lügner aus purer Gatten- und Menschenliebe.“
„Ich danke!“
„Nun gibt es umgekehrt die positive Lüge. Diese entspringt rätselhafteren Seelentiefen und wird folgerichtig öfter von Frauen geübt.“
„Immer unverschämter! Warum sollen wir Frauen besonders gerne lügen?“
„Nicht „wir Frauen“, aber einzelne, besonders veranlagte. Diese gehorchen irgendwelchen Urinstinkten, sagen wir einmal einer Art Grausamkeit, die bekanntlich besonders stark bei Kindern entwickelt ist. Ich denke z. B. an Kleopatra oder an die Marquise de Brinvilliers, die an Sklaven oder Kranken ihre Gifte ausprobierten und interessiert dem Verlauf der Wirkung zusahen, oder an die Gabrielle aus Henry Bernsteins «Secret», die aus perverser Freude an fremdem Unglück die verlogensten Intrigen spinnt. So gibt es Menschen und zumal Frauen - oder frauenhaft veranlagte Männer, die aus naiver Grausamkeit und Lust am Unheilstiften lügen, positiv lügen, das heißt Unwahrheiten erfinden oder Irrtümer wissentlich und absichtlich sich verbreiten lassen, wie andere Bomben legen oder anonyme Briefe schreiben.“
Meine Freundin glaubte es der Ehre ihres Geschlechtes schuldig zu sein, nicht länger zuzuhören.
Vierzehn Tage später begegnete sie mir wieder.
„Sie hatten damals recht,“ sagte sie einigermaßen beschämt. „Meine Hertha hat mir später unter Tränen gestanden, daß sie damals alles glatt erfunden hatte. Sie hätten ihre Reue und ihre Verzweiflungsausbrüche sehen müssen.“
Jetzt weiß ich wirklich nicht, hat die kleine Hertha das erste oder das zweite Mal gelogen.