Original

11. April 1923

Es stand bei mir fest, daß die Kirschen in der Nacht von Montag auf Dienstag erfroren waren.

Ich hatte frühmorgens um den Baum herum Stichproben von Blüten abgepflückt und sie untersucht. Bei allen war am Stempel unten der Fruchtknoten braunschwarz. Die Blüten schimmerten noch weiß und hielten den Toten in ihrem Schoß geheim. Wie Mädchen, die abends zum Tanz gehen wollen, es noch nicht sagen, daß morgens ihre Tante gestorben ist. Aber wie gesagt, die nähere Untersuchung machte alle Hoffnung zuschanden.

Ich schlug also das Kreuz über die heurige Kirschenernte. Und wieder muß ich gestehen, in den Schmerz um die im Keim gemordete rote Pracht mischte sich schnöde Schadenfreude. Schadenfreude über die Gesichter, die die Spatzen, Drosseln und Stare schneiden werden, wenn sie den Tisch nicht wie sonst gedeckt finden. Denen gönne ich es, daß sie leer ausgehen, sie, die mir von der reichsten Ernte nie mehr als ein Pfund halbreifer Kirschen übrig gelassen und dabei sich unverschämt über mich lustig gemacht haben, wenn ich den Baum mit dem Flobert in der Hand umschlich und sie immer auf der Baumseite saßen, die mir abgekehrt war.

Eben lese ich in den Blättern, daß der Frost den Kirschen zum Glück noch nichts angehabt hat. Nun soll man zwar nicht alles glauben, was in den Blättern sieht, aber diesmal scheinen die Blätter gegen meine Skepsis recht behalten zu wollen. Denn als ich mittags wieder - traurigen Herzens - meine Blicke über die weiß überblüten Äste schweifen ließ, die so hoffnungsmutig in der Sonne leuchteten, sah ich von Blüte zu Blüte Bienen taumeln. Und ich sah, wie jedes Bienchen den Kopf in jede Blüte hineinsteckte und einige Augenblicke darin verweilte. Das schien mir das sicherste Zeichen, daß ich morgens allzu schwarzbraun gesehen hatte. Denn die Bienen sind materiell veranlagt, sie machen den Blüten den Hof nicht ihrer weißen Toilette wegen, sie sind wie Freier, die nur in den Häusern verkehren, wo auf reichliche Mitgift zu rechnen ist.

Also freuen wir uns trotz allem auf die Kirschenernte. Die wenigen, die es gibt, werden umso besser.

Als ich mittags die Bienen fliegen und die gesund gebliebenen Blüten hofieren sah, revidierte ich, wie gesagt, mein Empfinden von morgens, und dabei ergab sich das Seltsame, daß ich vor der neuen Erscheinung betrübter dastand, als vor der ersten. Morgens hatte ich mit einem Nuck trotzig von der gänzlichen Zerstörung Notiz genommen. Als aber in der Mittagssonne ein Teil der Blütenpracht sich als gerettet herausstellte, meldete sich plötzlich eine leise Trauer um den Teil, den der Reif in der Frühlingsnacht verdorben hatte. Es war ein Gefühl ähnlich dem, das sich in den Kriegsjahren herausgebildet hatte, wo der Tod zur Massenerscheinung geworden war, wo die Toten sozusagen nur noch als Fabrikware wirkten. Die brutale Massenhaftigkeit des Unglücks stumpfte ab. Sobald es aber wieder an dem ist, daß aus jedem Toten ein Sonderfall wird, daß das Leben dem Tod gegenüber sich wieder stegreich behauptet, daß nach einer tödlichen Frostnacht die Bienen über lebendigen Blüten summen, dann denkt man auch wieder mit Wehmut der andern, die es nie zur Erfüllung bringen werden.

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