Original

15. April 1923

„Eine eifrige Leserin“ schüttet mir ihr Herz aus über eine Tier-Tragödie, viel mehr eine Menschenund Tier-Tragödie aus ihrer Nachbarschaft. Sie begeht das Unrecht, anonym zu schreiben und vielleicht auch einer Nachbarin eins auswischen zu wollen, aber da sie ein gutes Herz verrät und einen guten Zweck verfolgt, will ich ihr trotz der Anonymität das Wort verstatten, obgleich ihre Dazwischenkunft wahrscheinlich zu spät kommen wird. In ähnlichen Fällen rate ich ihr für später, sich an den Tierschutzverein zu wenden, dessen. Adresse, mir unbekannt ist, aber von dessen Dasein ich überzeugt bin.

Sie schreibt:

„Sehr geehrter Herr!

In meiner Nachbarschaft wohnen Leute, deren Katze in den nächsten Tagen Familienzuwachs erwartet. Sie werden daran nichts Außergewöhnliches finden. Daß diese Leute herzlos genug sind, ihrer Katze, die nebenbei gesagt ein liebes, niedliches Ding ist, mit Absicht den Zutritt zu ihrer Wohnung zu verweigern, wie sie ihr seit langem auch schon die Nahrung verweigern, dürfte Sie schon nicht mehr gleichgültig lassen. Von Nachbarn auf ihr herzloses, naturwidriges Benehmen aufmerksam gemacht, erwiderte die Eigentümerin der bedauernswerten Katze, eine ältere Dame, sie hätte doch dem Nachbarssohne die Eilaubnis erteilt, das arme Wesen zu erschießen, was derselbe inzwischen wohl getan haben werde. Der Rachbarssohn, der nicht grade allzu zart besaitet ist (sonst würde er keine Spatzen schießen und an einer über den Garten gezogenen Schnur aufhängen, wohl als abschreckendes Beispiel wegen des frischgesäten Salats), hat sich nun geweigert, das Kätzchen zu erschießen, weil er sich, wie er selbst sagte, keines Verbrechens gegen das keimende Leben schuldig machen will. Er hat demnach mehr menschliches Empfinden, als die bewußte Dame. Das möchte ich ihm hoch anrechnen, wenn er nur noch irdene Pfeifen statt Spatzen schießen wollte. Mittlerweile schleicht die bemitleidenswerte Katze bei Tag und Nacht in Kälte und Regen obdachlos umher, lebt von den paar Bissen, die mitfühlende Menschen ihr reichen und wird wohl morgen oder übermorgen in irgend einer kalten Ecke ein paar allerliebsten Kätzchen das Leben schenken.

„Meine Bitte an Sie, sehr geehrter Herr, geht dahin, Sie möchten der eingangs erwähnten Familie Ihre Meinung sagen, und nicht zu knapp. Wer soll sich sonst der armen Tiere annehmen, wenn es nicht edle Menschen tun?“

Über dem Lesen fiel mir ein: Wie nun, wenn ein edler Mensch sich der Katzenmutter annähme und nachher die Jungen ersäufte? Es ist eine notorische Tatsache, daß der Jungekatzenmord durch Ersäufen jahraus jahrein in die Tausende geht. Ist da das Kollektivverfahren durch die Kugel vor der Geburt grausamer oder nicht? .......

Schließlich gebe ich meiner eifrigen Leserin recht. Der bethlehemitische Kindermord war eine himmelschreiende Grausamkeit, der Massenmord gesegneter Mütter hätte zu dem Verbrechen die größere Feigheit hinzugefügt.

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  • Letter from reader
KatalognummerBW-AK-011-2375