Original

1. Mai 1923

„Den Kerl müssen Sie mal ordentlich hochnehmen!“ schäumte Grimberger. Er hatte einen Zusammenstoß mit einem Schalterlöwen gehabt, der ihm vor versammeltem Volk so frech getommen war, daß Grimbergern die Worte im Hals stecken geblieben waren.

„Überhaupt diese ganze Bande,“ keuchte er. „Das bildet sich Gott weiß was ein, weil es hinter seinem Guckloch das steuerzahlende Publikum zum besten halten darf.“

„Na na,“ beschwichtigte ich den Aufgebrachten. „Was hatten Sie denn wieder für eine Auseinandersetzung mit Ihrem Freund?“

„Ich frug ihn, ob er meine. er sei für das Publikum oder das Publikum für ihn da.“

„Darauf er?“

„Darauf sagte der Frechdachs, so ein Publikum wie ich sei offenbar für ihn da, denn er müsse ja ab und zu auch einen freudigen Augenblick haben. Ich gehe sofort zum Minister. Und Sie wissen hoffentlich, was Sie über den Fall zu schreiben haben!“

Darauf sagte ich Herrn Grimberger praeter propter, was ich über den Fall zu schreiben gedenke.

„Sehen Sie, Herr Grimberger, Sie begehen den Fehler“ - er sah mich heimtückisch von unten herauf an - „daß Sie die Schalterbeamten nicht als Menschen auffassen.“

„Mit Recht. Sobald so ein Kerl sich hinter einer Schranke geborgen fühlt, kommt er sich vor, wie ein Mann an einem Maschinengewehr, der alles vor sich niederkartätschen kann.“

„Infofern haben Sie recht, als der Beamte, der durch ein Schalterloch mit dem Publikum verkehrt, sich leicht eine gewisse Rücksichtslosigkeit angewöhnt. Aber der Schein trügt oft. Wenn uns der Mann kurz angebunden erscheint, ist es oft nur die Gewöhnung an immer dieselbe Geste und dieselben Worte. Was uns ein Neues, Seltenes, Ungewohntes und oft Einziges ist, ist ihm das Immerwährende, das Langweilige, man könnte sagen Feindliche. Sie können nicht verlangen, daß Ihnen ein Postkommis bei jeder Fünssousmarke, die er Ihnen verkauft, sich teilnahm- voll nach Ihrem Befinden erkundigt, Ihnen eine Prise anbietet oder den neuesten Witz erzählt. Ich möchte Sie einmal Briefmarken oder Fahrkarten verkaufen sehen!“

„Oi je!“ Er mußte selber lachen.

„Sehen Sie, Herr Grimberger, der Fehler ist, daß wir den Mann am Schalter ausschließlich als eine Parzelle des Staates ansehen, dieses Rackers von Staat, den wir nur spüren, wenn er uns drückt. Aber dieser Mann steht letzten Endes dem Staat genau so gegenüber, wie Sie und ich. Er liebt ihn noch ein gut Stück weniger, denn er muß für ihn arbeiten. Er ist auch Mensch, vor allen Dingen Mensch. Er ist kein Automat, dem Sie oben ein Geldstück in den Rachen schieben und der dafür unten eine Schachtel mit Wachszündhölzern oder Nähzeug oder ein Päckchen Zigaretten von sich gibt. Er ist, wie gesagt, ein Mensch wie jeder andere, mit Hirn, Herz, Magen, Nerven usw. Es kann ihm grade so gut, wie einem andern, passieren, daß er lieber alles andere täte, als was er grade tun muß. Es kann ihm, wie jedem andern passieren, daß er mittags Streit mit seiner Frau bekam, weil sie die Leber gebacken statt zu Ragout verarbeitet hatte; daß er mit seinem Schatz sich überworfen; daß er sich den Magen verdorben; daß er gestern abend im Zwick ein halbes Monatsgehalt verloren hat; daß er nicht weiß, womit er morgen seine rückständige Kost bezahlen soll; daß er verliebt ist; daß er an den Hecht von achtzehn Pfund denkt, den er am nächsten Sonntag fangen wird; daß er sich den Kopf darüber zerbricht, wie die Geschichte im Feuilleton weitergeht, bei deren Lektüre Sie ihn gestört haben; daß er noch immer heftig an die schöne Schwarze denkt, die ihm aus den Reihen der Alzinger Prozession den heißen Blick zugeworfen und die er vorhin bei der Musik am Paradeplatz wiedergesehen hat.

Das alles und noch viel mehr - und sei es ein Hühnerauge oder ein hohler Zahn - kann daran schuld sein, daß es dem Schalterbeamten in einem gegebenen Augenblick an Leutseligkeit gebricht.

Deshalb dürfen Sie aber noch nicht den ganzen Stand mit Ihrem Fluch verfolgen, Herr Grimberger!“

Er brummte etwas von Rasselbande in den Bart und sagte, ich könnte ihn übrigens gern haben und der Minister auch, er bekomme ja doch nirgends recht.

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KatalognummerBW-AK-011-2386