Original

19. Mai 1923

Bei den heutigen teuern Zeiten sind Sie doch auch für jede Angabe einer billigen Bezugsquelle dankbar, nicht wahr? Nicht, daß ich Ihnen verraten könnte, wo Sie ein Pfund Butter für dreißig Sous, ein Paar Schuhe für achtzehn und einen neuen Anzug für fünfundsiebzig Franken kaufen können. Es handelt sich um Gebrauchsartikel höherer Ordnung.

Sie kennen die Anekdote vom Vater, der seinem Sohn als freudiges Erlebnis statt eines Theaterabends empfahl, daß er abends im Bett die Füße herausstrecken sollte, bis sie eiskalt wären und sie dann rasch ins warme Bett hereinzöge: Es wird dir machen ein sehr großes Vergnügen und wird dir kosten keinen Pfennig.

G. de Pawlowsky gibt seinen Lesern einen ähnlichen Rat. In der Besprechung des humoristischen Romans von Henri Béraud «Le martyre de l’obèse» schreibt er in den «Annales»:

«Aucun divertissement psychologique ne vaut, croyez moi, celui qui consiste à imaginer telle personne avec les traits d’une autre.»

Das leuchtete mir seiner Billigkeit wegen ein und ich beschloß, sofort die Probe auf das Exempel zu machen. Ich ging in die Kammer und stellte mir Herrn Jacoby, der grade am Reden war, mit den Zügen des Herrn Mark vor. Das Ergebnis war verblüffend. Ich überlasse es Ihnen, sich die Wirkung auszumalen. Ich dehnte das Experiment noch weiter aus und wechselte in unzähligen Kombinationen je zwei Köpfe gegen einander aus. G. de Pawlowsky hat recht. Als divertissement psychologique ist das Spiel unerreicht.

Doch, ich kannte bereits früher ein ähnliches. Ich habe zwei Freunde, deren einer ein wunderbares Nachahmungstalent besitzt, während der andere dafür schwärmt, in Gesellschaft pathetische, hochgestochene Sachen vorzulesen.

Eines Abends nun, während der zweite zur Abwechslung aus dem Textbuch von Parsifal vorlas, platzte in die andächtige Kirchenstille hinein ein rohes, ungezähmtes Lachen. Es war ich. Ich konnte nicht dafür. Es war wie eine Trombe über mich gekommen. Plötzlich war mir nämlich die Vorstellung durch den Kopf geschossen, der Mann dort, der mit den Frackschößen am Blüthner lehnte und Parsifal vorlas, sei nicht er selbst, sondern mein anderer Freund, der ihn imitierte. Und während das Original durchaus nicht zum Lachen reizte, wirkte schon der bloße Gedanke an Imitation wie Lachgas.

Das finden Sie überall bestätigt. Sie hören tausend Menschen Ihrer Bekanntschaft reden und sehen sie sich bewegen, ohne daß es Ihnen einfiele, daran etwas Komisches zu finden. Spricht aber ein anderer mit auch nur annähernder Ähnlichkeit nur einen Satz nach und begleitet ihn mit einer Bewegung, die uns bei dem ersten geläufig ist, so schreien wir vor Lachen. Warum nur? Es ist schwerlich die karikaturale Verzerrung, denn je getreuer die Imitation, desto komischer die Wirkung.

Ich denke mir, es ist ganz gemeine Schadenfreude. Es ist, als ob wir Zeuge wären, wie einem Bekannten zum Scherz ein Stück seiner Persönlichkeit aus der hinteren Rocktasche gestohlen würde. Grade, wie wenn einem das Taschentuch heimlich herausgesingert und Ulk damit getrieben wird.

Wir sollten eine Lehre daraus ziehen. Die Lehre, daß wir uns auf unsere Persönlichkeit nicht zuviel einbilden und uns nicht für etwas Besonderes halten sollen. Wir sehen, daß unser Allerindividuellstes zum Lachen reizt, sobald es von uns losgelöst erscheint. Also werden wir nur aus Gewöhnung ernst genommen.

Dies gilt besonders für die Kategorie von Mitbürgern, die als feierliche Dummköpfe rubriziert

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KatalognummerBW-AK-011-2399