Original

20. Mai 1923

Als vor einigen Tagen während eines Gewitters in dem großen Kronleuchter des Kammersitzungssaales über den Köpfen der Volksvertreter ein Funke knisternd sprang, sagten Spaßvögel, das sei ein antizipiertes Pfingsten mit Ausgießung des hl. Geistes über die Kammer in Gestalt feuriger Zungen.

Es hat sich indes herausgestellt, daß das nicht zutraf.

Heute ist wirklich Pfingsten. Und wo sind die Apostel versammelt, daß der Geist über sie komme? Der wahre Geist, denn damals scheint er es noch nicht gewesen zu sein. Es handelte sich wahrscheinlich auch nur um ein meteorologisches Lichtphänomen, denn was die Apostel und ihre Nachfolger aus der Erbschaft des hl. Geistes vom ersten Pfingsttag an gemacht haben, damit brauchen sie sich nicht immer zu brüsten.

Reden wir von Pfingsten. Es ist die Höhe des Jahres, die in den drei großen Feststufen erklommen wird: Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten.

Der Name ist im Deutschen nicht schön und er hat außerdem nur arithmetische Bedeutung. Pentäcostä, griechisch, der fünfzigste Tag (nach Ostern). Da lobe ich mir Ostern, das nach der germanischen Frühlingsgöttin Ostara benannt ist. Aber „der fünfzigste Tag“, das ist so ungefähr, wie sie in amerikanischen Großstädten die Straßen benennen: die hundertdreiundfünfzigste Straße, die Fifth Avenue usw.

Freilich, durch die Jahrhunderte hindurch hat sich auch um den Namen des Festes, das eigentlich nur der Schatten eines andern ist und mit einer Ziffer benannt wird, allerhand Efeu gewoben und ihm den Zauber der sehr schönen alten und ehrwürdigen Dinge gegeben.

Pfingsten steht auf den Schultern von Ostern. Zwischen Ostern und Pfingsten, heißt es in einem alten französischen Sprichwort, gibt es keinen Nachtisch: Entre Pâques et la Pentecôte le dessert est une eroûte. Weil nämlich der Geleeschrank leer und noch kein neues Obst gewachsen ist.

Daß wir mit dem Namen Pfingsten offiziell die Vorstellung herrlichen Frühlingswetters verbinden, daran ist Goethe schuld, der es „das liebliche Fest“ für alle Zeiten getauft hat. Aber der Wettermann da oben kann sich nicht darnach richten. Ostern kann nach dem Konzil von Nikäa im Kalender zwischen dem 22. März und dem 25. April hin- und herrutschen, also muß Pfingsten mitrutschen, und wenn die himmlische Wetterstelle nicht einmal für Weihnachten, das hübsch brav auf seinem 25. Dezember sitzen bleibt, mit Sicherheit jedes Jahr den dazu gehörigen Schnee herstellen kann, wie können wir denn verlangen, daß sie sich mit ihren Dispositionen nach unserm beweglichen Festkalender richtet?

Diese beiden Feste Ostern und Pfingsten stehen im Jahr wie Sphynxe oder sonstige altägyptische Denkmäler. Als sie kürzlich im Tal der Königsgräber die Gruft des Tut-Ankh-Amen aufdeckten, hieß es, das sei wahrscheinlich der Pharao, unter dem die Israeliten ihren Auszug aus Ägypten bewerkstelligt hätten. Jahrtausende trennen uns von jener Zeit, und wie unheimlich nahe ist sie uns gerückt, durch die Rätsel, die die Politik des Moses und Aaron aufgibt und die so voll des saftigsten Menschlichen sind, durch die Unmittelbarkeit, mit der das Leben jener Menschen nunmehr aus Gräbern uns anhaucht! Und wie seltsam muß uns der Gedanke bewegen, daß unsere Herzen an Ostern und Pfingsten als Glieder in der Jahrtausende alten Kette von Menschenherzen schlagen, die sich alle Jahre der wiederkehrenden und höher steigenden Sonne freuten und freuen!

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