Original

5. Juni 1923

Das beste Mittel gegen Verdauungsbeschwerden, Schlaflosigkeit, moralische Depression und dergleichen waren lange Zeit die Pinkpillen. Heute ist es der Beggener Tram. So versicherte mir ein Freund und erzählte im Stil der Bescheinigungen, die mit den Porträts der Geheilten im Anzeigenteil der Zeitungen erscheinen:

Meine Schwiegermutter litt seit Jahr und Tag an allgemeinem Unbehagen. Sie verdaute schlecht, schlief schlecht, wachte morgens auf mit einem übeln Geschmack im Mund, litt, wie übrigens auch ihre Umgebung, an beständiger Übelgelauntheit, wodurch sie alles viel schwärzer sah, als es wirklich war, kurzum, sie konnte, wie man sagt, sich selber nicht leiden. Ich, ihr Schwiegersohn, gab mir alle erdentliche Mühe, dem Übel beizukommen, mit dem einzigen Ergebnis, daß sie gelegentlich durchblicken ließ, sie werde mir den Gefallen, abzukratzen, noch so bald nicht tun. Ich ignorierte diskret die lieblose Anspielung in dem Bewußtsein, es mit einer Kranken zu tun zu haben.

Dieser Tage nun beredete ich sie, daß sie an einem Familienausflug nach Walferdingen teilnahm. Wir waren in fröhlicher Gesellschaft, und bei Mays auf der Terrasse aßen wir Käseschmieren und tranken Grächen dazu bis spät in den Abend. Meine Schwiegermutter aß und trank mit, obschon ihr der Arzt den Kochkäse und den Grächen ausdrücklich und namentlich verboten hatte. Ich hatte sie erst darauf aufmerksam gemacht und wollte für sie extra Kaffee mit Zwieback bestellen, da sagte sie, jetzt esse sie expreß Käseschmieren, ob ich sie ihr gönne oder nicht.

Um halb elf war sie davon noch nicht gestorben. Aber es hieß, ans Aufbrechen denken. Irgend jemand behauptete, er wisse, wie in Beggen die Elektrische abfährt. Der letzte Wagen fahre jedenfalls 11.20. Nein, sagte meine Schwiegermutter, mit dem letzten Wagen fahre sie nicht, das sei der Lumpensammler, da finden sich alle Betrunkene zusammen, einmal sei sie damit gefahren, da habe gar einer sie küssen wollen. Jawohl, sagte sie trotzig auftrumpfend zu mir, ob Sie es glauben wollen oder nicht. Ich meinte es gut und sagte, um den Mann zu entschuldigen, er sei ja betrunken gewesen. Darauf sie: Ob ich denn glaube, sie sei eine solche Vogelscheuche, daß ein Mann bei gesunden Sinnen Abscheu vor ihr empfinden müsse. - Dies alles nur, um zu zeigen, wie aufheberisch sie durch ihr Leiden geworden war.

Wir brachen also um halb elf auf, um den vorletzten Wagen zu erreichen, der zehn vor elf fahren sollte.

Nicht nur sollte, er fuhr wirklich. Als unsere Gesellschaft noch fünfzig Meter vom Wagen entfernt war und die Damen grade in ein Gespräch über Dienstmädchen so vertieft waren, daß keine mehr die andere hörte, da fuhr der Wagen los. Grüne Sterne spritzten unter seinen Rädern auf, wie die Funken unter den Hufen eines feurigen Rosses, und wir hatten buchstäblich das Nachsehen.

Der letzte Wagen fuhr nun aber nicht 11.20, sondern 11.45. Wir hätten genau 53 Minuten, also rund eine Stunde zu warten gehabt. Aber in Dommeldingen fuhr ein Wagen um 11.20, den konnten wir noch erreichen.

Teilnahmvoll frug ich meine Schwiegermutter, ob sie noch so weit gehen könne. Sie war beleidigt. Sie sei doch keine Mummelgreisin, und wenn ich noch so gut zu Fuß sei, wie sie, so könne ich mich freuen.

Gut, also wir zogen los.

Diesmal sprachen die Damen ausgiebig über die „gölle Fra“.

Als wir in Dommeldingen um die Ecke bogen, war alles dunkel. Ich frug einen jungen Mann, ob der Elfzwanzigwagen nicht mehr verkehre. Der sei grade, vor einer Minute, weggefahren, sagte er.

Die Damengruppe war überhaupt nicht stehen geblieben, sie war im Gespräch über die Kniee der „gölle Fra“ im Anlauf weitergegangen und erst vor unserer Haustür merkte meine Schwiegermutter, daß sie zuhaus und nicht in Dommeldingen an der Trambahnhaltestelle war.

Um es kurz zu machen: Andern Tags kam sie mir entgegen mit dem Gesicht, das ich an ihr gewohnt war, als ich noch um ihre Tochter freite. Liebenswürdig, aufgeräumt, mit blitzenden Augen.

„Ich habe geschlafen, wie ein Murmeltier, ich fühle mich so frisch und gesund, wie eine Bachforelle,“ sagte sie.

Und seither hält die Besserung an.

Sie sehen: Der Beggener Tram wirkt Wunder, aber man darf nicht damit fahren, sondern muß zu Fuß hinter her laufen. Nichts befördert so sehr die Verdauung und den Schlaf, und mithin die gute Laune. Es lebe der Beggener Tram!

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KatalognummerBW-AK-011-2412