Original

9. Juni 1923

Im Verkaufsladen des Hofphotographen Herrn Victor Ahlen hängt eine zirka dreißig Jahre alte Aufnahme aus dem Vorgarten von Schloß Walferdingen. Sie zeigt den alten Großherzog Adolph mit einem Flügeladjutanten in einer leichten Victoria, gezogen von vier feurigen Rappen, Mähnen im Wind, auf dem Bock der Leibkutscher Koller mit einem Lakaien in Livree, im Hintergrund vor der Schloßfront zwei Diener in Wadenstrümpfen, die respektvoll, die Hände an der Hosennaht, warten, bis der hohe Herr aus ihrem Gesichtskreis entschwunden sein wird.

„Die gute alte Zeit!“ fiel mir ein, als ich dieser Tage das Bild betrachtete. Denn der alte Herzog Adolph - man nannte ihn nach seinem alten Titel lieber noch Herzog, statt Großherzog, wobei viele nicht wußten, ob sie den Ton auf die erste, die zweite oder die dritte Silbe legen sollten - der alte Herzog Adolph war eine lebendige Verkörperung der guten alten Zeit. Um seine Person webten Erinnerungen an den Völkerfrühling von 1848, an das Wiesbaden vor 1866, an die Kaiserstadt Wien. Dann war er als Träger dieser reichbewegten Vergangenheit zu uns gekommen mit einem Hofstaat nach vornehmem alten Stil, mit Zeremoniell und Trachten, die wir nur aus Büchern kannten und in denen sich die Überlieferungen von Jahrhunderten niedergeschlagen hatten.

Der beginnenden Epoche des Automobils stand der alte Fürst mit der Verachtung des Pferdeenthusiasten für die benzinumstunkene, tote Maschine gegenüber. Er hatte kaum einen Knochen im Leib, den er nicht schon bei einem Sturz mit Pferd oder Wagen gebrochen hatte, mit seinen schlanken Juckern war er wie oft viere lang ein Tempo gefahren, von dem er sicher war, daß es von so einem Stinkmoppel nie würde übertroffen werden. Er jagte zwischen Mittenwald und der Vereinsalp über steile und holperige Bergwege, daß seinen Begleitern die Haare zu Berge standen, und wollte nicht glauben, daß man im Auto dasselbe zuwege brächte. Kurzum, er hing am Alten und mochte sich nicht ins Neue fügen, trotzdem er vielleicht insgeheim einsah, daß das Neue besser war.

So ergeht es uns allen. Wir ertappen uns immer wieder dabei, daß wir als laudatores temporis acti über die Gegenwart die Augen verdrehen und überzeugungsvoll einstimmen in Paul Clemens Revüeliedchen, „vun der gudder aler Zeit“. Aber wir machen uns gegenseitig nur was vor. Wenn uns das Schicksal beim Wort nähme und sagte: „Gut, Ihr sollt Euern Willen haben, ich kriege Euch beim Wickel und versetze Euch a tempo in Eure famose gute alte Zeit zurück!“ - so würden wir mit Armen und Beinen um uns schlagen und schreien: „So war es nicht gemeint!“

Nein, machen wir uns nicht schlechter, als wir sind. Die Welt ist wirklich besser geworden, nicht allein an technischen Hilfsmitteln, auch im Verhältnis der Menschen zu einander. Es hat ja oft, fast immer Krämpfe gekostet, bis ein Besseres durchgesetzt wurde; aber wir sollen nicht immer mit Schaudern und Wehklagen von den überstandenen Krämpfen reden, sondern mit dem Besseren rechnen und uns darauf einstellen.

Ich kannte eine alte Dame, die sehr viel von Malerei verstand und sich selbst auch ein wenig das Malen angewöhnt hatte. Sie besaß eine Sammlung guter Bilder aus den Jahren 1840 bis 1880. Saubere Arbeit, solide Zeichenkunst, akademisch richtiges Kolorit, kurzum, alles sehr wackere Leistungen, zum Teil von Künstlern, die für ihre Epoche repräsentativ bleiben werden und deren einige berühmt geworden sind.

Diese Dame geriet in fürchterliche Aufregung, wenn sie hörte, wieviel Aufhebens nacheinander von den Pleinairisten, den Pointillisten, den Impressionisten gemacht wurde. Vor einem Van Gogh drohte sie einmal in Ohnmacht zu fallen.

Der Zufall wollte, daß sie mehrere Jahre in einem Kreis leben mußte, in dem sie nur ganz moderne Bilder zu Gesicht bekam. Sie hörte nicht auf, darüber in den krassesten Ausdrücken zu schimpfen, die ihre gute Erziehung ihr zu Gebot stellte.

Und eines Tages kam sie wieder heim. Ihr erster Gang war in ihre geliebte Gemäldesammlung. Es war eine Katastrophe. Sie hatte jedes Verhältnis zu ihren verehrten Meistern verloren, fand sie sch kindisch, langweilig, prätentiös, zum Teil komisch.

So erginge es uns ganz sicher mit der guten alten Zeit.

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