Original

16. Juni 1923

„Das ist Stoff für einen Abreißkalender,“ sagte hinter mir die Trägerin eines hübschen blonden Lockenkopfes zu ihrer Freundin.

Der „Stoff“ bestand aus einer Frau und drei Marktkörben mit Eiern, Butter, Erdbeeren und Salat.

Ich bestimmte die Frau als wahrscheinliche Köchin einer zahlreichen, wohlhabenden Familie. Denn sie hatte reichlich eingekauft, wenn die Vorräte nur bis zum nächsten Markttag reichen sollten.

Sie trug eine dunkle Brille und machte auf weibliche Schönheit keinen besondern Anspruch. Woraus ich schloß, daß sie sehr gut kochen mußte.

Nun liegt ja nichts Außergewöhnliches darin, daß eine Frau mit drei Marktkörben an einem Markttag in der Nähe des Marktes in die Erscheinung tritt.

Das Außergewöhnliche lag diesmal in der Aufmachung.

Der Schauplatz war am Fuß der Treppe, die dem Athenäum gegenüber nach dem Wilhelmsplatz führt.

Sotane Frau kniete auf dem Pflaster und um sie herum standen die drei Körbe, aber sie waren halb leer. Die andere Hälfte ihres früheren Inhalts lag auf dem Boden verstreut. Die roten Kügelchen der Erdbeeren waren weit umher über das Pflaster gerollt, dazwischen hinein hatten die zerbrochenen Eier die Papstfarben weiß und gelb komponiert und das saftige Grün des Salats vervollständigte den Farbenakkord.

Die Frau klaubte mit bekümmerter Miene aus den zerbrochenen Eiern die ganz gebliebenen heraus und ihre Fingerspitzen waren mit Dotter vergoldet.

Ich frug sie teilnahmvoll, was denn geschehen sei, und sie erzählte, wie es zugegangen war. „Ich hatte schon einen Korb auf die Plattform gesetzt und wollte mit den zwei andern nachsteigen, da klingelte es, der Wagen zog an und ich flog mit meinen Körben aufs Pflaster.“

Und seufzend klaubte sie weiter, von Leidtragenden dicht umstanden.

„Ja,“ stellte eine andere Hausfrau ihre Theorie auf. „Sie kucken nach nichts, Sie klingeln und dann fahren Sie.“

Sie! Das war das blinde, unerbittliche Schicksal in Gestalt der Männer vom Tram. In den Mienen der Umstehenden malte sich stummer Ingrimm über „Sie“, die nach nichts kuckten, klingelten und fuhren, während arme Frauen von den Wagen stürzten, ihre Eier auf dem Pflaster zerschellten, ihre Butterwecke außer Fasson gerieten und ihre Erdbeeren unter die Füße der Passanten rollten.

Und nie hat mir ein Anblick so das Bild unheiliger Verwüstung, roher Schändung und Verzerrung dargestellt, wie diese Frau inmitten ihrer ramponierten Vorräte unter blanker Vormittagssonne auf dem Straßenpflaster. Es knirschte einem unter den Zähnen, wie die Erdbeeren und der Salat sich mit Straßenstaub bepuderten, es lief einem klebrig die Handflächen entlang, wie die rohen Eier ihren Inhalt langsam ausgossen, und beim Anblick der hingeschütteten Butterwecke dachte man schaudernd an die Zeit, wo die Butter 25 Francs das Pfund gekostet hatte. Das alles war gewaltsames Herausreißen von allerhand Zartem, Zerbrechlichem und Kostbarem aus der Bahn seiner natürlichen Bestimmung, brutale Profanation von Werten, die so gar nicht auf die Erde gehörten.

Und die Leute standen herum und keiner rührte eine Hand, um der Betroffenen zu helfen.

„Sie wollen nicht in den Verdacht kommen, stehlen zu wollen,“ sagte jemand.

Und ein anderer fügte hinzu: „Die Frau wird schon allein fertig. Je mehr sich Hände um ihre Eier und Beeren und ihre Butterwecke rühren, desto größer die Gefahr des Ausfalls.“

Gab es nicht ähnliche Situationen in der Wettgeschichte?

Als ich eine halbe Stunde später wieder vorbei kam, spielte der letzte Akt der Tragikomödie.

Ein Polizist nahm den Tatbestand auf. Er war mit der Einvernehmung des Opfers beschäftigt. Ich hörte nicht, was er sagte, aber wahrscheinlich fragte er, ob die Frau ihren Impfschein bei sich habe.

Es wird schon alles wieder gut werden.

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