Er: Jawohl, verehrte Freundin, es ist, wie ich Ihnen sage: Kinder erziehen ihre Eltern.
Sie: Ihre Liebe zum Paradox gibt Ihnen die abstrusesten Dinge ein. Kinder, die ihre Eltern erziehen! Sie wollen mir wieder so einen Knochen hinwerfen, an dem ich mir die Zähne wetzen soll.
Er: Pfui! Und dazu knurren?
Sie: Ich gehe auf den Spaß lieber gar nicht ein.
Er: Auch nicht, wenn ich Ihnen den Beweis bringe, daß ich recht habe.
Sie: Den möchte ich sehen.
Er: Hier ist er. (Zieht aus der Brusttasche ein Büchlein in Goldschnitt, das er ihr überreicht.)
Sie: Mein Thomas a Kempis.
Er: Den Sie mir vor Jahren einmal geliehen hatten.
Sie: Warten Sie ..... Es sind genau sieben, nein, acht Jahre her.
Er: Es war an dem Tag vor dem Kasinoball, auf dem Sie sich plötzlich verlobten.
Sie (in Gedanken versunken): Ich erinnere mich genau. (Wieder ganz im Bilde): Aber wieso ist dies Buch von der Nachfolge Christi ein Beweis dafür, daß Kinder ihre Eltern erziehen?
Er: Mein Junge hat sich angewöhnt, aus meiner Bibliothek allerhand Bücher zu entleihen, die er nie wieder zurückbringt. Ich fand das schließlich abscheulich von ihm. Da ich aber mein Gewissen erforschte, wurde ich inne, daß er diese Unart von mir selbst mußte geerbt haben. Von Stund an erzog ich mir eine Ordnung und Gewissenhaftigkeit an, die ich früher nie gekannt hatte. Seit Jahr und Tag bin ich beschäftigt, alles Verworrene in meiner Vergangenheit zu liquidieren und zu ordnen. Heute sind Sie mit Ihrem Thomas a Kempis an der Reihe. Sehen Sie, wie mich dieser Bengel erzogen hat!
Sie: Allerdings, wenn dabei ein Vorteil für mich herausspringt, muß ich ja schon zugeben, daß an Ihrer Theorie etwas dran ist. (In diesem Augenblick kommt Ihr siebenjähriges Töchterchen herein, ein auf- fallend hübsches Kind. Und sie weiß es. Sie wirft dem Freund ihrer Mama einen Blick zu, der die Frage enthält: Weißt du es auch, daß ich hübsch und wie hübsch ich bin?)
Sie: Nun, Lolotte, gibst du dem Herrn kein Händchen? (Lolotte gibt ein Händchen, wobei sie den Schoß leicht vorschiebt und das Köpfchen zur Seite neigt, sodaß die blonden Locken besser wirken und die Blicke aus den Augenwinkeln unendlich viel mehr besagen.)
Sie: Pfui, du abscheuliche Kokette! Sehen Sie das miserable kleine Ding, wie es sich schon hat! Wo hast du gelernt, so ein Händchen geben? Ich werde dich einmal tüchtig herannehmen müssen. Hast du deine gezierten Manieren bei den Frauenzimmern in der Küche gelernt? Es ist ein Jammer, was einem jetzt von weiblichen Dienstboten ins Haus geschneit kommt! (Lolotte drückt sich verdattert zur Tür hinaus.)
Er: Glauben Sie wirklich, daß das bei Ihrem Töchterchen schon Koketterie ist?
Sie: Verlassen Sie sich drauf.
Er: Und ist das so schlimm?
Sie: Noch schlimmer. Koketterie! Haben Sie denn den kleinen Aff richtig dabei angesehen? Übelste Sorte!
Er: Ich war mir über den Begriff nie klar.
Sie: Und ich war mir darüber nie klarer, als seit ich Lolotte beobachte.
Er: Worin wirkt sich die richtige Koketterie denn eigentlich aus?
Sie: Kurz gesagt in der Entfaltung aller Verführungskünste, über die man verfügt oder zu verfügen glaubt, um sein Opfer mit voller Wucht ins Leere rennen zu lassen und sich an dem Bluff zu freuen.
Er: Aber Ihre kleine Lolotte ....
Sie: Bei ihr sind es natürlich erst die Mittel, der Zweck besteht vorläufig nur im Unterbewußtsein.
Er: Und Sie finden also jetzt, daß das Kokettieren wirklich eine so gar üble Sache ist?
Sie: Gräßlich, verabscheuungswürdig. Die häßlichsten Seiten der weiblichen Wesenheit treten darin zutage.
Er (nach einer Pause): Es ist spät geworden, verehrte Freundin. Leben Sie wohl. Und denken Sie darüber nach, ob doch nicht vielleicht etwas Wahres daran ist, daß Kinder ihre Eltern erziehen! (ab.)
Sie (denkt Minuten lang nach): Nein, so ein Widerwart! Wollte am Ende insinuieren, ich sei früher kokett ......... (versinkt wieder in Nachdenken.)