Original

1. Juli 1923

Die Baulust greift noch viel weiter um sich, als Sie denken. Sie hat sich auch schon des Tierreichs bemächtigt. Wenn Sie am Gebäude der Arbed vorbeigehen, sehen Sie ein paar Meter rechts vom Hauptportal in der Freiheitsavenue unter der Dacheorniche ein neues Schwalbennest. Allerdings muß man sagen, diese Corniche ist für baulustige Schwalben eine wahre Herausforderung. Sie ist wie durch einen Lotterungsplan in saubere Schwalbenbauplätze eingeteilt. Übrigens soll es für ein Haus von segensvoller Vorbedeutung sein, wenn Schwalben daran dauen. Grade wie es umgekehrt für ein Schiff ein böses Zeichen ist, wenn die Ratten es verlassen.

Also ein Schwalbenpärchen hatte beschlossen, sich ein Nest zu bauen. Es flog in der Stadt und Umgegend herum nach einem Bauplatz, konnte aber nichts finden, was ihm volles Vertrauen einflößte. Da kam es auch an die Arbed. Die Sonne lag auf der hellen Front, daß sie Licht und Wärme in den Raum weithin strahlte. „Hier ist gut sein!“ sagte das Schwalbenfrauchen. „Hier ist man geschützt und sieht weit hinaus zwischen dem blauen Himmel und den grünen Wäldern.“ - „Und man kann sich gleich so frei und wett hinausschwingen und sieht auf Hunderte von Metern jede Mücke schwirren,“ fügte das praktisch veranlagte Männchen hinzu.

Gleich begaben sie sich ans Bauen, und in ein paar Tagen war das Nest fertig. Das Rohmaterial dazu fanden sie auf der Straße in Hülle und Fülle.

„So,“ sagte das Männchen, „fertig ist die Laube. Was meinst du, Frau, sollen wir zur Belohnung nicht einen kleinen Ausflug machen? Nach Hesperingen etwa, oder nach Walferdingen? Nach Walferdingen flöge ich zu gern wieder einmal, dort hängt noch mein Geburtsnest unterm Kirchendach, ich habe in Walferdingen die schönsten Stunden verlebt.“

„Meinetwegen,“ sagte sie. „Ich kenne Walferdingen noch nicht, aber ich habe viel Gutes davon gehört. Eine Kusine von mir hat sich dort angebaut. Der Lehm soll vortrefflich sein und sogar zu künstlerischen Zwecken verwandt werden.“

Also flogen Sie nach Walferdingen, wo sie eine lustige Gesellschaft trafen und um den Kirchturm herum ihr Gaudi hatten bis Dunkelwerden.

Zur selben Zeit war ein junges Spatzenpaar auf der Wohnungssuche. Es kam an dem neuen Schwalbennest vorbei und das Spatzenmadamchen flog direkt darauf zu.

„Grade, was wir brauchen,“ sagte es zuversichtlich.

„Und billig,“ sagte er.

Sie stellte fest, daß das Nest leer war.

„Wir können gleich da bleiben,“ sagte sie. „Ich habe das ewige Herumflattern satt. Und dazu ist mir, als werde bald meine Stunde kommen.“

„Hm,“ machte das Spatzenmännchen, „ich habe Bedenken. Man ist ja als frecher Spatz bekannt, aber so mir nichts dir nichts eine fremde Wohnung beziehen ....“

„Wenn sie doch leer steht!“ sagte sie. „Außerdem, ich weiß Bescheid. Ich habe einen Vetter von mir gefragt. Er ist Advokat und hat schon viele Prozesse gegen Hausbesitzer geführt. Er wohnt unter dem Regierungsdach, siebter Sparren links, und hat selbst schon seit drei Jahren keine Miete bezahlt. Trotzdem kriegen sie ihn nicht raus, so gescheit ist der. Von diesem Vetter weiß ich, daß wir uns ruhig in eine leere Wohnung hineinsetzen dürfen. Sind wir einmal drin, so bekommen sie uns nur auf Grund eines regelrechten Urteils wieder heraus. Das dauert Monate. Dann legen wir Berufung ein, es dauert wiederum Monate, zur Not wird noch einmal das Mieterschutzgesetz geändert, bis dahin sind unsere Jungen flügge und wir brauchen kein Nest mehr.“

„Ihr Frauenzimmer habt den Teufel im Leib!“ sagte er lachend und schlüpfte ihr nach in das mollige Schwalbennest.

Und so kommt es, daß Sie rechts vom Hauptportal der Arbed ein fröhliches Spatzenpärchen um ein neues Schwalbennest können sich tummeln und als Eigentümer gebärden sehen.

Das Nestbesitzerpaar aber mußte bei einer alten, verwitweten Tante in der Umgegend Obdach suchen.

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KatalognummerBW-AK-011-2435