Original

4. Juli 1923

Vor mehreren Monaten - es war ganz genau am 21. Februar 1923, vier Uhr siebzehn Minuten nachmittags, im Wald zwischen Mutfort und Sandweiler, da beging ich den Leichtsinn, einem jungen Mädchen etwas zu versprechen, was ich jetzt nicht halten kann.

Es war die kleine Renée, damals knapp vier Jahre alt. Der versprach ich, sie zur Kirschenzeit in unserm Garten auf einen Baum zu setzen, damit sie sich nicht allein satt Kirschen essen, sondern auch noch mehrere Körbe voll pflücken könnte.

Wir hatten in Remich den Fastnachtszug gesehen und waren von dem Übermut, der um ihn rauschte, angesteckt worden, sonst hätte ich nie solch leichtsinniges Versprechen gegeben.

Ich habe die kleine Renee seither wieder gesehen und konnte merken, sie hat die Einladung nicht vergessen. Kleine Mädchen vergessen nie etwas, was man ihnen versprochen hat. Und nun bin ich schön blamiert. Indem es meinen Kirschen nicht besser ergangen ist, als den meisten Kirschen im Land. Was nicht erforen war, ist verkümmert. An beiden Bäumen waren zusammen 37 Stück zu zählen, die es bis zum Jünglingsalter, wenn ich so sagen darf, gebracht hatten, aber 25 davon sind auch schon wieder abgefallen und auf die übrigen 12 lauern schon die Amseln, Spatzen und Stare.

Siehst du, kleine Renée, mit den Kirschen ist es nichts. Glaube aber um Gottes willen nicht, daß ich mich heimtückisch um mein gegebenes Wort herum schleichen will. An alledem sind die verflixten Eisberge schuld, die hoch oben im Norden treiben und schmelzen wollen. Um aber schmelzen zu können, brauchen sie Wärme, diese entziehen sie der Luft, bis zu uns herunter saugen sie die Wärme aus dem Raum und scheren sich einen Pfifferling drum, ob wir frieren und mitten im Sommer soviel Holz und Kohlen verfeuern müssen, wie um Weihnachten. Wer hätte das gedacht, kleine Renée, als der Küfer der Caves St. Martin uns damals die volle Flasche vom Wagen reichte, daß noch an Johanni in Remich die Trauben nicht am Blühen und die Hechte noch nicht mit Laichen fertig sein würden!

Also ich werde mir die Lektion hinter die Ohren schreiben. Nie mehr werde ich im Februar eine Bärenhaut verkaufen, die erst im Juni reif wird!

Doch es bleiben uns die Pflaumen und die Zwetschgen. Die sind geraten, wenn nicht alles trügt. Freilich, so schön, so sündhaft schön rot, wie die Kirschen, sind sie nicht. Aber sie sind ausgiebiger. So eine dicke blaue Pflaume ist wie ein Honig-Ei, die Wespen kriechen hinein, wie die Ratte in den Holländerkäse, sie wohnen drin, fressen sich dick satt und fassen es als Beleidigung auf, wenn man sie in ihrem Vergnügen stört. Daneben hangen die gelben und die roten Pflaumen, eine saftiger, als die andere, und sie sind viel entgegenkommender, als die Kirschen. Die Kirschen verlangen, daß man ihnen bis in die höchste Baumspitze bei Lebensgefahr nachklettert, die Pflaumen sagen gütig: „Bleib nur ruhig unten, mach dich nicht müd, halte den Schoß auf, ich falle dir hinein, du brauchst nur einmal am Ast zu rütteln.“

Und die Zwetschgen erst, kleine Renée! Wenn es so weiter geht, werden sie gegen Allerheiligen reif, und wir singen dann nicht mehr: „Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, die letzten roten Astern trag herbei,“ sondern an die Stelle der letzten roten Astern werden wir die ersten Zwetschgenkuchen auf den Tisch tragen.

Das Jahr ist überzwerch geraten, liebe kleine Renée, transponiert wie eine Klaviatur, die man um eine halbe Tonleiter heruntergesetzt hat. Aber vielleicht wird es noch besser, als wir glauben, vielleicht machen die Pflaumen gut, was die Kirschen gefehlt haben. Vielleicht hat manch einer, der im Mai und August todunglücklich war, noch einen seligen Spätherbst und Winter?

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