Original

18. Juli 1923

„Ich sah zwei Maschinisten hinter einer Kulisse Karten spielen; als sie im Saal lautes Beifallgeräusch hörten, guckten sie durch ein Loch, um den Mann auf der Bühne zu sehen und fuhren in ihrem Spiel fort; ich glaube, sie schenkten den Vorgängen draußen keine Aufmerksamkeit und nahmen das Geräusch, das in ihrer Nähe Paderewski auf seinem Klavier machte, als ein notwendiges Übel ihres Berufs mit in den Kauf.

Das ist nur ein Gestus, wie viele andere, aber man darf darüber eine mißmutige Enttäuschung empfinden. Es ist die Teilnahmlosigkeit, die einen dabei ärgert. Denn selbst wenn ich nicht gebildet genug bin, um ein Kunstwerk zu verstehen und wenn darum meine Begeisterung gezwungen und ein wenig falsch ist, so gebe ich mir doch wenigstens Mühe, zu bewundern, was ich von Würdigeren, als ich selbst, bewundert sehe. Ich weiß, daß ich unwissend bin, aber ich suche mich zu bilden. Jene beiden Arbeiter machten den Versuch nicht. Und wenn die Musik sie gleichgültig läßt, so mißfällt mir doch dieser allzu billige und dazu hoffärtige Freimut, mit dem sie sich gewissermaßen ihrer Unwissenheit rühmen. Und die Eitelkeit gewisser Snobs ist manchmal näher an der richtigen Beurteilung als die angebliche Unabhängigkeit der „schlichten Menschen“, die sich nicht für das interessieren, was sie nicht lieben.“

Ich lese diese beherzigenswerten Zeilen in einer der letzten Nummern der Halbmonatsschrift «Libres propos».

Man hat lange den sogenannten gesunden Menschenverstand gegen den Snobismus ausgespielt und über diesen verächtlich die Achseln gezuckt. Gehen wir, grade wir, darin nicht ein wenig weit, sind wir durch Veranlagung und Entwicklung nicht geneigt schon aus Bequemlichkeit dem gesunden Menschenverstand den Vorzug zu geben? Es braucht dazu so wenig, und es ist ein Triumph, wenn der gesunde Menschenverstand auch in Dingen der Kunst zum Beispiel vor dem Urteil der Menge recht behält. Nur fragt man sich, wo Kultur und Kunst und die ganze Menschheit geblieben wären, wenn der gesunde Menschenverstand immer den Ausschlag gegeben hätte und, symbolisch gemeint, die zwei kartenspielenden Maschinisten über die Laufbahn Paderewskis zu bestimmen gehabt hätten.

Unser nationales Wesen ist stark vom Materiellen beeinflußt. Wir hatten, nachdem uns die freundliche Laune des Geschicks auf eigene Füße gestellt hatte, vor allen Dingen unsere materielle Lebensfähigkeit nachzuweisen. In Wirtschaft, Politik und Diplomatie blieb uns wenig Spielraum für schone Künste, primum vivere deinde philosophari. So kamen wir dazu, daß der Gott, zu dem wir am inbrünstigsten beten lernten, der Gott Erfolg wurde. Wir gehen nicht gern einem Ergebnis nach über Fernen, die uns unfruchtbar dünken, weil wir sie nicht überblicken können. Das Greifbare ist Trumpf. Wir gewinnen auch lieber zehn Sous für einen Humpen im Kartenspiel, als daß wir uns durch den Genuß an einer künstlerischen Meisterleistung innerlich bereichern. Dort handelt es sich um zehn Sous, hier um mikroskopische Werte, an deren spätere Summierung die wenigsten glauben. Der Snob wirft sich im Gegenteil auf jede Leistung, sofern er dahinter ungekannte Werte wittert. Und er wittert sie, weil er sieht, daß Klügere die Leistung bewundern. Allein dieser Zug: die Anerkennung der Überlegenheit des Klügeren - sollte uns in der Ablehnung des Snobs vorsichtiger machen. Denn darin liegt die erste Vervollkommnungsmöglichkeit. Wer immer ablehnt, mag in seinem Erdreich fest und sicher wurzeln. Aber er wächst nie über sich hinaus. Unabhängigkeit ist schön. Wer aber zum Beispiel nie in einem Auto oder Schnellzug fahren will, weil er von keinem Chauffeur oder Maschinisten oder geplatzten Pneu oder Schienenbruch abhängig sein will, wird mit seinem Unabhängigkeitsgefühl bald am Straßengraben sitzen.

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  • lux. Wesen
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KatalognummerBW-AK-011-2449